19. Aug 2023

Boshafte Äußerungen dürfen veröffentlicht werden

Beitrag in der FAZ von Reiner Burger

Der lange Rechtsstreit um das mündliche Vermächtnis Helmut Kohls hat eine neue, für seine Witwe unerfreuliche Wendung genommen. Eine Vielzahl unautorisierter Zitate darf nun doch wieder verwendet werden.

Dass ein einstmals erfolgreiches Buch neu aufgelegt wird, ist selten eine Meldungszeile wert. Doch „Vermächtnis. Die Kohl-Protokolle“, ein von Helmut Kohls geschasstem Memoiren-Ghostwriter Heribert Schwan gemeinsam mit dem zwischenzeitlich verstorbenen Ko-Autor Tilman Jens verfasstes Werk, lohnt der näheren Betrachtung. Um das seinerzeit mit sehr heißer Nadel aus zumeist deftigen und unterhaltsamen Werturteilen des früheren Bundeskanzlers über Parteifreunde, politische Gegner oder Manager gestrickte Werk dreht sich seit 2014 ein über alle Instanzen geführter und längst auch zum Bundesverfassungsgericht getragener Streit, der zuletzt Züge einer Fehde annahm. In ihm ging es stets um die ganz großen Fragen des Lebens: Vertrauen, Verrat, Rache, Genugtuung, Persönlichkeitsrechte, Familienstreit, Erbangelegenheiten, Presse- und Meinungsfreiheit und selbstverständlich auch um sehr viel Geld.

Ein Kassenschlager wie 2014 werden die „Kohl-Protokolle“ bestimmt nicht noch einmal werden. Doch dem Heyne-Verlag dürfte es mit der für Anfang kommenden Jahres angekündigten Wiederveröffentlichung der Print- und E-Book-Ausgabe ohnehin eher darum gehen, demonstrativ zu dokumentieren, dass er sich weitgehend gegen Kohls Witwe Maike Kohl-Richter durchgesetzt hat. Eine dem kurios-komplexen Charakter des Falls angemessene skurrile Wendung gibt es aber auch diesmal: Die Neuauflage muss nach derzeitigem Verfahrensstand ein Werk ohne Autoren sein. Denn während das Oberlandesgericht Köln im Sommer auf Rücküberweisung des Bundesgerichtshofs entschieden hat, dass der Heyne-Verlag eine große Zahl der im Buch enthaltenden Kohl-Zitate im vollständigen Wortlaut oder mit vergleichsweise geringen Veränderungen doch verbreiten darf, ist das dem Autor Heribert Schwan nach wie vor untersagt.

Die angekündigte Wiederveröffentlichung ist die jüngste Wendung des noch vom Kanzler der Einheit selbst begonnenen und nach seinem Tod 2017 von seiner zweiten Ehefrau Maike Kohl-Richter fortgeführten und immer weiter ausufernden Verfahrens, in dem es im Kern um mittlerweile legendäre Interviews in einer Gesamtlänge von mehr als 600 Stunden geht, die der frühere WDR-Journalist Schwan in den Jahren 2001 und 2002 mit Kohl in dessen Oggersheimer Bungalow geführt hat. Es handelt sich um das monumentale mündliche Vermächtnis eines Jahrhundertpolitikers, der wenige Jahre nach seinem Amtsende ausführlich schriftlich Rechenschaft ablegen lassen wollte. In bestem Einvernehmen arbeiteten Kohl und Schwan viele Jahre lang zusammen. Schwan interviewte Kohl nicht nur mit großer Ausdauer, sondern durchforstete auch Berge von Akten; von den Tonbandmitschnitten ließ Schwan von einer Honorarkraft Transkripte anfertigen. Auf dieser breiten Materialgrundlage verfasste der Ghostwriter zunächst Kohls sogenanntes Tagebuch und dann die ersten drei Bände der Kohl-Memoiren. Auch dies geschah nach detaillierten Vorgaben Kohls wie dieser: „(Norbert) Blüm muss kurz und schmerzlos behandelt werden … bei ihm muss das Wort ‚Verräter‘ in irgendeiner Form rein.“

Volkshochschulhirn, Sparbrötchen, Narr, Verräter

Kohl war mit Schwans Leistung zunächst sehr zufrieden. Tatsächlich gelang dem Ghostwriter-Historiker auch sprachlich eine beeindruckende Anverwandlung. Doch mitten in der Arbeit zum vierten Band kam es 2009 zum Zerwürfnis, bei dem Maike Kohl-Richter eine wichtige Rolle gespielt haben soll.

Der tief gekränkte Schwan veröffentlichte daraufhin zusammen mit Ko-Autor Jens 2014 auf eigene Faust das boulevardgängige Buch „Vermächtnis. Die Kohl-Protokolle“, das sich auf zumeist deftige Tonbandpassagen stützt. Denn in vertrauter Atmosphäre hatte der frühere Kanzler seinem Ghostwriter nicht nur ausführlich seine Sicht auf die wesentlich von ihm mitgestaltete jüngste deutsche und europäische Geschichte dargelegt, sondern sich immer wieder auch in einen Abrechnungsrausch geredet. Spitzenpolitiker, Manager, Parteifreunde und Parteifeinde, Christliche und Freie Demokraten, Sozialdemokraten und Grüne belegte Kohl mit Begriffen wie Volkshochschulhirn, Versager, Niete, Null, Narr, Sparbrötchen oder – so sein ultimatives Verdikt – als Verräter.

Als 2014 Kohls umgehender Versuch scheiterte, das Buch vom Landgericht Köln komplett verbieten zu lassen, beantragten seine Anwälte ein Verbot von rund 100 Passagen. Dem gab das Gericht statt. Viele schöne juristische Siege errang der frühere Kanzler danach noch. Die Tonbandaufnahmen hätten allein als Grundlage für die unter Kohls Namen veröffentlichten Memoiren gedient, entschieden die Gerichte. Kohls Privat- und Persönlichkeitssphäre seien durch den „regelwidrigen Verstoß gegen die Vertraulichkeit“ verletzt worden. Zwar hatten Kohl und Schwan keinen Vertrag miteinander, sondern nur jeweils mit dem Memoiren-Verlag Droemer. Doch die Richter kamen zu dem Ergebnis, dass zwischen den beiden promovierten Historikern Kohl und Schwan die Geheimhaltung konkludent (stillschweigend durch eine schlüssige Willenserklärung) verabredet worden sei. Schwan bestreitet das vehement. Das OLG Köln befasst sich derzeit auch abermals mit diesem Verfahrensstrang. Mitte Oktober soll in dieser Sache ein Urteil fallen.

Kohl sah sich öffentlich bloßgestellt und verspottet

Ihren bisherigen Höhepunkt erreichte die Causa Kohl, als das Landgericht Köln Schwan, seinen Ko-Autor und den Heyne-Verlag 2017 zu einem Rekordschadenersatz in Höhe von einer Million Euro verurteilte. Beide Seiten legten Berufung ein; der frühere Kanzler, weil er auf dem ursprünglich geforderten noch viel höheren Betrag (fünf Millionen Euro) bestand. Seine Anwälte argumentierten, durch die unautorisierte Veröffentlichung der Zitate habe die herausragende Person der Zeitgeschichte Helmut Kohl eine „Superpersönlichkeitsrechtsverletzung“ erlitten. „Es gibt keinen vergleichbaren Fall, in dem ein langgedienter Staatsmann in politischen Spitzenämtern eines Landes nach seinem Ausscheiden in gleicher Weise derart hintergangen und durch Rechts- und Vertrauensbruch derart öffentlich bloßgestellt, vorgeführt und verspottet wurde“, hieß es in der ursprünglichen Klageschrift. Auch mit supranationalen Überlegungen hatten die Kohl-Anwälte in ihrem monumentalen Schriftsatz argumentiert: Die Höhe der Summe müsse ein „entsprechend klares Signal der Genugtuung und der Entschädigung für den Kläger und sein Lebenswerk gleichermaßen für das Inland und Ausland sein – von Deutschland über Europa und die Vereinigten Staaten bis hin nach Russland, China und Japan“.

Als Kohl am 16. Juni 2017 starb, hatte das Schadenersatzurteil keine Rechtskraft erlangt. Damit war der weitere Verlauf vorgezeichnet. Denn kurz davor hatte der Bundesgerichtshof (BGH) in einem anderen Fall die langjährige Rechtsprechung bekräftigt: Erben haben nur dann Anspruch auf Schmerzensgeld, wenn ein Urteil rechtskräftig ist. So war es keine Überraschung, dass das Oberlandesgericht Köln im Frühjahr 2018 entschied, dass Maike Kohl-Richter das Geld nicht bekommt. Schließlich gehe es darum, dem Geschädigten Genugtuung zu verschaffen. Das sei nur möglich, solange er noch lebe, befand das Kölner Gericht mit Verweis auf die Grundsatzurteile des BGH. Seither zerrinnen Kohl-Richter die Siege ihres verstorbenen Mannes.

Ende November 2021 wies der Bundesgerichtshof nicht nur Kohl-Richters Revision gegen das Kölner Schadenersatzurteil zurück. Am selben Tag entschied der BGH auch noch, dass es dem Heyne-Verlag – anders als Schwan – doch nicht pauschal verboten ist, die angegriffenen Kohl-Zitatpassagen zu verbreiten. Unterbleiben müssen lediglich Falschzitate. „Nur insoweit verletzen Veröffentlichung und Verbreitung der angegriffenen Buchpassagen das von der Klägerin wahrgenommene postmortale Persönlichkeitsrecht ihres verstorbenen Ehemannes.“

Abfällige Äußerungen über Merkel, Rau, Wulff und Schröder

In den allermeisten Fällen sah der VI. Zivilsenat des BGH die Sache als positiv oder negativ geklärt an. Jene Zitate, die der BGH auf der Grundlage der bisherigen gerichtlichen Feststellungen weder als eindeutig richtig oder falsch beurteilen konnte, verwies er nach Köln zur Tat­sachen­feststellung zurück. Am dortigen Ober­landesgericht musste also noch einmal eine eingehende Kohl-Exegese stattfinden, immer wieder dürften die Richter ausweislich des dann im Juni ergangenen Zitate-Urteils die Mitschnitte an den strittigen Stellen hin und her gespult haben, um festzustellen, was Kohl seinem Ghostwriter wirklich ins Mikrofon gesagt hatte und bei welchen Buchpassagen es sich um Fehlinterpretationen oder Falschzuschreibungen handelt.

Auch hier kippt der so verbissen geführte Rechtsstreit immer wieder ins Skurrile. Das vielleicht beste Beispiel dafür ist der Hörfehler, der Schwans Honorarkraft beim Abtippten einer Passage über den früheren baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth (CDU) unterlief. Die Honorarkraft gab Kohl mit den Worten wieder, Späth habe „als großer Butler … unentwegt Spezialkontakte“ in die DDR gehabt. Seit Juni ist nun gerichtlich festgesellt sicher, dass Kohl seinen Parteifreund Späth nicht als „großen Butler“, „sondern vielmehr mit Blick auf dessen Wurzeln in Baden-Württemberg“ als „großen Babbler“ bezeichnet hat. Das OLG wertet den Transkriptionsfehler nicht als Flüchtigkeitsfehler, sondern als Fälschung. Kohl habe Späth „nicht etwa als einen Kammerdiener, sondern als einen Vielschwätzer bezeichnen“ wollen. „Dass beide Vorwürfe vergleichbar herabwürdigend sein mögen, trägt keine andere Sicht, weil der Erblasser (Kohl) sich auch postmortal nicht eine andere, nicht getätigte Äußerung unterschieben lassen muss.“ Darüber hinaus gehende postmortale Abwehranspruche gegen die wörtliche oder sinngemäße Veröffentlichung und Verbreitung von Zitaten Kohls „sind dagegen nicht zu konstruieren“.

Deshalb darf der Heyne-Verlag die Mehrzahl der angefochtenen direkten und indirekten Zitate wieder veröffentlichen. Dazu zählen unter anderem Kohl-Äußerung zu Angela Merkel, Johannes Rau, Christian Wulff, Rita Süssmuth oder dem langjährigen Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, Hans-Jochen Vogel, der „praktisch nach dem Abstillen in die Politik aufstieg“ und „immer im Dienst“ sei. Seine Parteifreundin und spätere Bundeskanzlerin Angela Merkel sei „ja wenig vom Charakter heimgesucht“, befand Kohl. Auch seine Vertraute Juliane Weber habe regelmäßig das Weite gesucht, sobald „die Dame Merkel“ im Anmarsch war. Den Sozialdemokraten Johannes Rau beschrieb Kohl als „absurde Figur, die sich da ins Amt des Bundespräsidenten geschlichen hat“, mokierte sich über dessen „unerträgliche Verknüpfung von Religion und Politik“. Süssmuth beschrieb Kohl als CDU-Politikerin, „die sich wegen günstiger Todesfälle in der Frauenunion hochhievte ins Kabinett“. Über den damaligen CDU-Fraktionsvorsitzenden im niedersächsischen Landtag, späteren Ministerpräsidenten und kurzzeitigen Bundespräsidenten Christian Wulff sagte Kohl: „Das ist ein ganz großer Verräter. Gleichzeitig ist er auch eine Null. Er hat nur Pech.“

Wieder erlaubt ist auch jenes Zitat, in dem sich Kohl vor mehr als zwei Jahrzehnten fast schon erschreckend prophetisch über seinen sozialdemokratischen Amtsnachfolger äußerte: Gerhard Schröder werde „in einigen Jahren abgehen“, sagte Kohl in einem der Interviews im Keller seines Oggersheimer Bungalows voraus. „Dann lässt er das Messer in der Seite stecken und geht ans große Geld.“ Schon kurz nach seiner Abwahl 2005 trat Schröder in den Dienst des russischen Energiekonzerns Gazprom.