23. Dez 2019

Der lange Arm von Mielkes Schalpphüten

Beitrag auf literaturmarkt.info von Christoph Mahnel 

Spionage war ein grundlegender Teil der Staatsdoktrin der Deutschen Demokratischen Republik. Euphemistisch firmierte dieser Apparat als Ministerium für Staatssicherheit, kurz MfS oder umgangssprachlich die Stasi. Als ihr bekanntester Leiter fungierte Erich Mielke, der als traurige Gestalt nach dem Zusammenbruch der DDR im November 1989 vor der Volkskammer den Bürgern der DDR glaubhaft machen wollte, dass er einfach nur alle Menschen liebe. Die Stasi war ein perfekt organisiertes Instrument der DDR-Führung, das mit einem gewaltigen Aufwand innerhalb der eigenen Landesgrenzen die Bürger durch Bürger überwachen ließ und außerhalb des Staatsgebiets bevorzugt beim westlichen Klassenfeind, der Bundesrepublik Deutschland, ein Maximum an Informationen abzuschöpfen versuchte. Kaum verwunderlich ist, dass nach dem Ende der DDR in der für Letzteres zuständigen Abteilung, der sogenannten Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), eine vollständige Vernichtung aller Akten und Unterlagen angestrebt wurde.

Glücklicherweise überlebte ein Teil dieser gefühlt unendlich großen Datenmenge diesen unvollständigen Vernichtungsversuch. Dieses Überbleibsel war schließlich immer noch immensen Volumens und bedurfte jahrelanger Recherche- und Analysearbeit. Heribert Schwan hat sich dieser Herkulesaufgabe gewidmet und zigtausende Blatt Aktenmaterial ausgewertet. Herausgekommen ist dabei das vorliegende Buch: "Spione im Zentrum der Macht. Wie die Stasi alle Regierungen seit Adenauer bespitzelt hat". Genau dies bildete den Schwerpunkt der Bemühungen des Ministeriums für Staatssicherheit, nämlich ins Herzstück der BRD vorzustoßen, in die innersten Kreise Bonns. Nach der Gründung der Stasi im Februar 1950 war Konrad Adenauer als erster Bundeskanzler der jungen Republik im Westen sogleich das Objekt der Begierde.

Der Aufwand, der für den kleinsten Informationsfetzen betrieben wurde, war enorm. Vom Preis-Leistungsverhältnis her waren viele Operationen extrem überteuert. Dennoch waren einige wirklich dicke Fische dabei, die sich Mielkes Schlapphüte angeln konnten. Der bekannteste Stasi-Spion war zweifelsohne Günter Guillaume, der als engster Vertrauter von Bundeskanzler Willy Brandt diesen im April 1974 durch seine Enttarnung gar zu Fall brachte. Die Guillaume-Affäre ist allerdings nur eines von vielen Kapiteln im vorliegenden Buch, derart umfangreich war das Datenmaterial, das Schwan durchleuchtete. Der Autor, Jahrgang 1944, war jahrelang als Journalist und Redakteur beim WDR tätig. Darüber hinaus hat er viele Bücher über zeitgeschichtlichen Themen rund um BRD und DDR verfasst bzw. entsprechende Dokumentationen fürs Fernsehen produziert. Schwan war einer breiten Öffentlichkeit im Zuge seines Rechtsstreits mit Helmut Kohl um Aufnahmen zu Interviews, die er mit dem 2017 verstorbenen Alt-Bundeskanzler geführt hatte, bekannt geworden.

Das gesunde menschliche Vorstellungsvermögen mag eine Idee davon haben, wie die Stasi versucht hat, an Informationen über den Klassenfeind zu kommen, doch welche Strategien hier tatsächlich Anwendung fanden, übersteigt diese Vorstellungskraft beträchtlich. Der Stasi waren schlichtweg alle Mittel und Wege recht. Eine beliebte Strategie bildeten beispielsweise amouröse Anwerbungen, bei denen ostdeutsche Stasi-Romeos westdeutsche Frauen, gerne Schreibkräfte mit Zugang zu brisantem politschen Material, umgarnten und schließlich den Datenabfluss einforderten. Alle Regierungen von Adenauer bis Kohl hatten so ihre undichten Stellen. Doch auch die westdeutsche Spionageabwehr war nicht gänzlich auf den Kopf gefallen, so dass mit Enttarnungen stets zu rechnen war, wie die Demaskierung von Günter Guillaume bewies. Spionage und Gegenspionage waren ein beliebtes Katz-und-Maus-Spiel zur Zeit des Kalten Krieges, das jedoch mit dem von der Stasi betriebenen Aufwand ungekannte und ungeahnte Maßstäbe setzte.

Heribert Schwan gelingt es vortrefflich, diese Uferlosigkeit in den ostdeutschen Bemühungen herauszustellen. Dennoch ist sein Buch deutlich über das Ziel hinausgeschossen, was den gemeinen zeitgeschichtlichen Leser betrifft. Man merkt Schwan deutlich an, wie intensiv und detailliert er das ihm vorliegende Material durchforstet hat. Nicht anders lässt sich erklären, warum er die zahlreichen in "Spione im Zentrum der Macht" geschilderten Fälle mit derart vielen Namen, Aktenzeichen-Nummern und sonstigen Infos überfrachtet hat. Selbst als interessierter Leser, der im vorliegenden Buch eine Zeitreise durch das geteilte Deutschland durchlebt, ist irgendwann der Punkt des Informationsüberflusses erreicht und die Aufnahmekapazität erschöpft. Was allerdings bleibt, sind ungekannte Eindrücke über ein System, das auf die perfekte Überwachung im Inneren wie auch beim Klassenfeind setzte und für das wie auch immer motivierte ostalgische Sentimentalitäten völlig unangebracht sind.