22. Jun 2021

Die Freiheit zu leben und zu sterben - Ein Bekenntnis | Tilman Jens

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Der Bescheid

Das Todesurteil kam an einem Montag im März 2019 und war von letzter Instanz gefällt. Aktenzeichen 54353855-8. Eine Revision sei nicht möglich. Zwei Vorstandsmitglieder der bald hundertjährigen Raiffeisen- und Volksbanken-Versicherung in Wiesbaden hatten die Daumen gesenkt. Nein, man werde mir keine Kreditbürgschafts-Police für den Fall meines Ablebens mehr ausstellen. Einer wie ich sei der Gemeinschaft der Versicherten nicht zuzumuten. Zu fortgeschritten seien die Folgeschäden meiner Diabetes-Typ-2-Erkrankung: die im Fragebogen von mir bereitwillig eingeräumte Lungenembolie, die zwei Großzehamputationen, die zunehmend manifesten Durchblutungsstörungen. Nach statistischer Wahrscheinlichkeit werde mich der Tod vor der vollständigen Rückzahlung meines Darlehens in fünf Jahren ereilen.
Das Unternehmen bat um Verständnis und kündigte an, den Vorgang zu den Akten zu nehmen. »Im Antrag haben Sie eingewilligt, dass die R+V Ihre Gesundheitsdaten drei Jahre speichern darf, auch wenn kein Vertrag zustande kommt.« Der Bescheid, der mir mit wenigen Textbausteinen recht unverbrämt den unerbittlich nahenden Tod prognostizierte, zeichnete sich nicht eben durch Feinfühligkeit aus und zerrte mir mit geballter Wucht den Spiegel vor Augen. Zunächst war ich empört. Dann kam der große Katzenjammer.
Schon Ende der Achtzigerjahre hatte mich meine damalige Hausärztin, zur Mäßigung in den Alltagsgewohnheiten mahnend, auf meinen wenn auch damals nur gelegentlich erhöhten Blutzuckerspiegel hingewiesen. Ich habe den vorsichtigen Weckruf überhört. Zehn Jahre später war der Befund manifest: Ich bin zuckerkrank. Seitdem habe ich alles darangesetzt, die absehbaren Folgen beiseite zu drängen, auch den mir bekannten Umstand, dass die Lebenserwartung eines Diabeteskranken um mehr als fünf Jahre unter dem Durchschnitt liegt. Die Forschung nennt das »diabetesbedingte Sterblichkeit«. Aber was sind schon fünf Jahre für einen, der damals noch nicht einmal fünfundvierzig war! Mein Großvater ist vierundneunzig geworden. Dann werde ich eben nur neunundachtzig. Die Vorstellung, eines Tages alt und grau zu werden, schien mir ohnehin ein Greuel.
Warum also mein geliebtes, rastloses und so genussreich ungesundes Dasein als Reporter gegen einen geregelten Job, etwa den eines Sitzredakteurs in einer Sendeanstalt, tauschen? Ich bin selbständig aus Passion. Mein Appetit aufs Reisen, meine Gier auf immer neue Abenteuer hat früh begonnen. Als Vierzehnjähriger bin ich das erste Mal getrampt: von Tübingen nach Hamburg, mit schriftlicher Genehmigung meiner Eltern. Nur alle fünf Stunden, das war die Abmachung, hatte ich mich, mit Groschen versorgt, von einer Autobahntelefonzelle aus zu melden. So bin ich über Jahre per Anhalter gereist, habe viele spannende Menschen getroffen und hatte mir geschworen, eines Tages einen Tramper-Atlas zu verfassen, der Hotspots und die Plätze des endlosen Wartens gegeneinanderstellen sollte. Am ärgsten, ich entsinne mich genau, war die Auffahrt in Bad Hersfeld-Aua. Auch wenn das Werk nie Gestalt annehmen sollte: Meine Eltern hielten es für pädagogisch angezeigt, den Freiheitsdrang ihres ältesten Sohnes nicht zu stoppen.
Ich habe früh mein Lebensmuster gefunden. Jede Form der Einschränkung, ob nun bei der Arbeit, beim Trinken oder Schlemmen, die mir wohlmeinende Ärzte zunehmend nahelegten, widersprach meinem Naturell. Einen gewissen Mangel an Weitsicht kann ich nicht leugnen. Maß- und Diät halten mögen bittschön andere.
Was mein Krankheitsbild angeht, scheine ich ins Raster zu passen. Viele meiner Leidensgenossen mit Diabetes Typ 2 – bei denen die Störung des Zuckerstoffwechsels keine angeborene Autoimmunerkrankung ist und die Insulinproduktion noch in Ansätzen, wenn auch stark reduziert, funktioniert – haben den Ausbruch ihrer Krankheit durch einen, ein wenig altmodisch gesagt, ausschweifenden Lebenswandel selber verursacht. Der bayerische Arzt und Mitbegründer des modernen Klinikwesens Friedrich von Müller fällte schon 1928 ein recht sarkastisches Urteil: »Meine Diabetiker aus wohlhabenden Kreisen (und Diabetes ist vorwiegend eine Krankheit der reichen Klassen) haben sich durch die Bank als außergewöhnlich geschickte Hamster entpuppt.« Ich fühle mich ertappt, auch wenn ich schon lang nicht mehr wohlhabend bin.
Die dreistelligen Ziffern auf dem allenfalls sporadisch zu Rat gezogenen Glukosemessgerät begriff ich als Chiffren sinnloser Selbstbespiegelung. Fieber schmerzt bis in die Knochen. Eine Erkältung setzt dich schachmatt. Aber ob der Zuckeranteil im Blut nun 100, 205 oder 312 Milligramm pro Deziliter beträgt, ändert zunächst einmal nichts am gefühlten Wohlbefinden. Das dauerhafte In-die-Fingerbeere-Stechen, um gelegentlich erst im zweiten Anlauf einen Blutstropfen herauszuquetschen, hinterließ zudem Knötchen und Narben, die das Tippen am Laptop erschwerten. Jeder Buchstabe ein kleiner Schmerz. Unblutige Verfahren mithilfe eines sogar von der Kasse erstatteten Sensors gibt es erst seit wenigen Jahren. Seitdem messe ich regelmäßiger, zumindest morgens und abends, und spritze mir die zur Regulierung erforderlichen Insulineinheiten in die Bauchdecke. Eigentlich ganz einfach.
Aber wenn der Doc einmal im Quartal mit kriminalistischem Spürsinn den HbA1c-Langzeitwert, den Blutzuckeranteil der letzten acht Wochen ermittelt, dann steht da dennoch oft ein in meinen Augen lästig moralisierendes Sündenregister. 8,4 Prozent! Ich habe also wieder einmal über die Stränge geschlagen, verdrängt, dass ich krank bin. Das Resultat ist Selbstbeknirschung für ein paar Tage. Dann geht es bald im alten Trott weiter. Ein wenig habe ich mich gebessert. Aber im Unterbewussten schlummert die alte Maxime noch immer: Ich lebe selbstbestimmt. Ich werde mich nicht dem Diktat der Broteinheiten beugen, nicht vor jeder Mahlzeit erst einmal rechnen und spritzen, fortdauernd an die Mitnahme von Kanülen oder des digitalen Auslesegeräts denken. Ich bin kein Kontrolleur meiner selbst. Basta! Lebensfreude und Buchhaltung: Geht das zusammen? – Wenn es bedrohlich wird, werden es Ärzte und Medikamente schon richten.
So habe ich mit Wonnen Raubbau getrieben, meine Vielbeschäftigung vorschützend auf sportliche Betätigung verzichtet, stattdessen so viel Arbeit in mich hineingeschaufelt, wie es nur immer ging. Und mich, bevorzugt wenn ich auf Reisen war, am späten Abend mit Teigwaren und Rahmsoßen belohnt, begleitet oft von reichlich gutem Wein. Um Salat oder Gedünstetes machte ich weite Bögen. In meinen ärgsten Zeiten brachte ich trotzig angefressene hundertachtzehn Kilo auf die Waage. Ich war hemmungslos dick. »Du siehst aus wie Helmut Kohl«, hat mir meine frühere Freundin Beate im Hallenbad auf dem Tübinger Waldhäuser einmal an den Kopf geworfen.
Übergewicht ist bekanntlich ein entscheidendes Merkmal, das den Diabetes befördert. Aber sollen sie doch reden, die sauertöpfischen Freunde und Weißkittel: Das bisschen Kranksein, da war ich sicher, haut mich nicht um. Ich bin schließlich nur einer von rund sieben Millionen Bundesbürgern, deren Zuckerstoffwechsel nicht mehr funktionieren will, bei denen die Langerhans-Inseln in der Bauchspeicheldrüse nicht mehr ausreichend Insulin produzieren und ausschütten.
Wir liegen im europäischen Ranking weit vorn, auf Rang zwei, knapp hinter der Russischen Föderation. Sieben bis acht Prozent aller Deutschen haben mit der langsam vorwärtsschleichenden Krankheit zu kämpfen. Die achte Ausgabe des IDF Diabetes Atlas (Jahrgang 2017) beziffert die Kosten für den Kampf gegen den Zucker hierzulande auf umgerechnet fünfunddreißig Milliarden Euro, jährlich. Das ist einsamer Rekord in Europa. Die Krankenkassen wenden rund zwanzig Prozent ihrer Ausgaben für Schäden auf, die der Diabetes mellitus anrichtet. Ich trage seit geraumer Zeit das Meine zu dieser Statistik bei, obwohl ich Süßes seit Kindheit nur in Maßen konsumiert habe. Doch die Leber zerlegt, dem Himmel sei’s geklagt, auch Kohlenhydrate in Glukose.
Auf den gern herbeizitierten Fluch der Genetik kann ich nichts abwälzen. Seit Generationen sind in meiner Familie keine vergleichbaren Fälle bekannt. Das Gros der Vorfahren – viele wurden weit über neunzig – war rank und bis ins Alter kerngesund. Meine Mutter und ihre drei Geschwister leben – Stand 31. Dezember 2019 – bis heute. Auch das Demenz-Siechtum meines Vaters begann erst deutlich nach dem achtzigsten Lebensjahr. Seine Glukose-Werte waren gut bis zuletzt.
Kurzum, ich hab’s selber verbockt. Kein anderer sonst. Nun ist es vermutlich zu spät. Als ich meinen Frankfurter Arzt des Vertrauens frage, wieviel Zeit mir noch bleibt, antwortet der Emeritus aus Sachsenhausen salomonisch: »Möglicherweise nicht mehr sehr viel.« Die systematische, fahrlässig in Kauf genommene Verwüstung der Physis lässt sich nicht mehr leugnen.
Mein Körper, mittlerweile immerhin mager, ist zur Großbaustelle geworden. All die verfluchten Folgeerkrankungen! Die Leistungsfähigkeit des Herzens nimmt ab, Augen und Ohren werden schwächer. Die Hauptschlagader ist angegriffen. Die Füße, zu wenig durchblutet, sind kalt, die Sohlen sind taub oder zumindest pelzig, eine Folge der Polyneuropathien, der unumkehrbaren Nervenschädigungen in den Beinen, die gut einem Drittel aller Diabetiker zu schaffen machen. Ich taumele oft mehr als dass ich kontrolliert einen Schritt vor den anderen setze. Immerhin tröstet mich die Bewegungs-App auf meinem Smartphone: Täglich sieben oder acht Kilometer Fußstrecke schaffe ich – noch. Aber wenn ich stürze, kann ich mich schon heute kaum ohne Stütze aufrichten.
Der Muskelabbau in den Beinen hat dramatische Ausmaße angenommen, was vermutlich Folge eines neuen, wenngleich wirkungsvollen Medikaments ist. Treppen ohne Geländer sind ein Problem. Im Bus auf dem Weg vom Terminal zum Flugzeug bieten mir rüstigere Mitreisende ihren Sitzplatz an. Schon seit geraumer Zeit setze ich mich nicht mehr zu Tisch, sondern lasse mich recht ungelenk auf den Stuhl plumpsen. Und nachts setzt bisweilen, wenn auch nur für Sekunden, die Atmung aus. Ich erwache in Panik. Auch die Schlafapnoe ist eine typische Begleiterscheinung des Diabetes. Sie reduziert, statistisch gesehen, die Lebenserwartung erheblich. Wissenschaftler des Düsseldorfer Leibniz-Zentrums für Diabetesforschung fanden 2017 heraus, dass über 20 Prozent aller Todesfälle in Deutschland auf Diabetes zurückzuführen sind.
Der Küchenschrank in meiner Wohnung gleicht einer Privatapotheke. Insulin, Nadeln und Sensoren, Pflegelotion für die geschundenen Füße, acht verschiedene Tabletten täglich. Balsam gegen den vor allem in den Wintermonaten auftretenden Juckreiz am Rücken und an den nächtens im Tiefschlaf blutig aufgekratzten Beinen. Der Entzündungsschmerz in der linken Schulter, die »Frozen Shoulder«, ließ sich über Wochen nur mit der Dauergabe von Ibuprofen betäuben. Vermutlich stünde mir ein Schwerbehindertenausweis zu. Aber den zu beantragen fiele dem Ego schwer. Ich lasse mich für eine bescheidene Erhöhung des Steuerfreibetrags nicht mit Amtssiegel zum Krüppel schlagen. Der alte Freigeist lodert auf: Mit fünfundsechzig Jahren helfen mir fünf Tage bezahlter Zusatzurlaub ohnehin nichts mehr. Ich habe beschlossen, solange es geht auf meine Art gegen all die lästigen Ausformungen der Zuckerkrankheit anzukämpfen, am Schreibtisch, vor allem aber als Fernsehreporter vor Ort.
Im Schnitt rund hundertfünfzig Tage, oft mehr als zweihunderttausend Kilometer auf Achse im Jahr. Die Bandbreite der Aufträge war immens. Als Berichterstatter mit Minensuchtrupps unterwegs auf den Falkland-Inseln, beim Weihnachtsgottesdienst auf Hallig Hooge, unter christlichen Fundamentalisten in Schwaben, eingekesselt von einer Bürgerwehr im thüringischen Bornhagen, als das »Zentrum für politische Schönheit« Björn Höcke in einer genialen Aktion ein kleines Holocaust-Stelenfeld vor die Nase setzte. Erschrockener Zeuge der AfD-Aufmärsche in Chemnitz. An Bord eines Binnenschiffer-Kahns, der sich in nervenaufreibender Monotonie von Duisburg über Datteln bis nach Berlin schleppte. Inmitten von Scientologen in Florida. Unter orthodoxen Juden in Tel Aviv, denen ihr Glaube verbietet, sich zur Begrüßung die Hand zu geben. In La Valletta, in Moskau oder Bratislava auf den Spuren ermordeter Journalistenkollegen. Im September 2001 in New York, Tage nach dem Anschlag vor den noch dampfenden Trümmern des World Trade Centers. Im Cockpit eines Löschflugzeugs über kalifornischen Waldbrandgebieten.
Nur: Dies Leben auf Abruf bedeutete Termindruck als Dauerzustand, rund um die Uhr Stress. Und der hebt nun einmal den Blutzuckerspiegel an und ist, wie etwa eine Studie finnischer Wissenschaftler mit über hunderttausend Probanden belegt, ein signifikanter diabetischer Risikofaktor. Der mich freilich nicht weiter kümmerte, die Verlockungen des Berufs waren einfach zu groß. Im togolesischen Lomé erlebte ich im von Untergrundkämpfern gebrandschatzten Goethe-Institut, wie gefährlich deutsche Kulturarbeit in Krisengebieten sein kann. Im Zuge der weltweiten Recherche bin ich wahren Helden begegnet, Institutsleitern und -leiterinnen unter totalitären Regimen, etwa in Weißrussland, und autoritären Systemen, die unterdrückte Künstler und Literaten hilfreich vernetzten. Am eindrücklichsten war die kugelrunde Leiterin des Goethe-Lesesaals im kirgisischen Bischkek. Die Stadt lag 2005 nach bürgerkriegsähnlichen Aufständen zu weiten Teilen in Trümmern. Straßenbarrikaden, die Schaufensterauslagen geplündert. Allein die Bibliothekarin schien durch nichts zu erschüttern: »Und wenn sie draußen Bomben werfen, wir haben von Montag bis Freitag, von zehn bis siebzehn Uhr geöffnet.«
Gelegentlich allerdings ging es auch beschaulicher zu: Einen verregneten Sommer lang mit dem polnischen Kurorchester auf Norderney. Im hessischen Bad Salzhausen an der Seite von chinesischen Investoren, die mit dem wahnwitzigen, alsbald scheiternden Versprechen antraten, den maroden Erholungsort an der Nidda zur Gesundheitsoase für fernöstliche Touristen umzubauen. Astrid Lindgren, die Autorin, mit der ich das Lesen erlernte, führte mich, im Tiefschnee stapfend, durch die Bullerbü-Heimat ihrer Kindheit im südschwedischen Vimmerby. Ein sympathischer Gangster, der Kaufhaus-Erpresser »Dagobert«, zeigte mir die Tatorte seiner einstigen Untaten in Berlin.
Den Neutöner Mauricio Kagel durfte ich 2006, zwei Jahre vor seinem Tod, auf seiner triumphalen Rückkehr ans Teatro Colón in Buenos Aires begleiten, das ihn knapp ein halbes Jahrhundert zuvor so schnöde verstoßen hatte. Peter Sodann, der Tatort-Kommissar a.D., der ewig grantelnde Klassenkämpfer, führte mich im sächsischen Staucha durch seine Monumentalbibliothek geretteter DDR-Hinterlassenschaften. Alexander Gauland lernte ich 2002 kennen, als er noch kein Rechtsaußen, sondern ein besonnener Frankfurter CDU-Mann war, ein konservativ aufgeschlossener Denker. Und während einer Reportage unter Bettlern in der Expo-Stadt Hannover erklärte mir Günther, den seine Mit-Obdachlosen den Philosophen nannten, was er unter Ehre versteht: »Solange ich beim Betteln stehen kann. Aber wenn ich sitzen und zu den Passanten aufschauen müsste, dann wäre es vorbei.« Das sind Lektionen fürs Leben, erteilt in weit über hundert längeren Dokumentationen und über dreitausend Magazinbeiträgen fürs öffentlich-rechtliche Fernsehen, als Chronist, häufig als staunender Zaungast. Doch immer mittendrin.
Eine Vier-Tages-Visite 2006 im Kongo für die aspekte-Kollegen hat mein Leben einschneidend verändert. Zu dieser Zeit führte die deutsche Öffentlichkeit gerade eine erregte Debatte: Ob ein Einsatz der Bundeswehr dem terrorgebeutelten Staat in Zentralafrika Stabilität schaffen könne – oder ob sich nicht besser anderweitig, durch die Stärkung der Zivilgesellschaft, helfen ließe? Das Goethe-Institut Kinshasa zum Beispiel war einst ein nicht unwichtiger Faktor der Verständigung im Land. Mangels Rendite wurde es im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt geschlossen. Die Mission sei ohnehin zu gefährlich. Aber Bundeswehrsoldaten sollten das Dilemma nun richten.
Als ich mich vor Ort umtat, fiel mir auf, dass auf den Straßen der Hauptstadt auffallend wenig ältere Menschen zu sehen waren. Ich hatte damals mächtigen Liebeskummer und schmolz vor Selbstmitleid seit Monaten dahin. Die Konfrontation mit den Gegebenheiten am Ort meiner Recherche war hilfreich. Die durchschnittliche Lebenserwartung im Kongo lag damals bei gerade einmal fünfzig Jahren. Hätte ich also rund um den Äquator, und nicht in Mitteleuropa, das Licht der Welt erblickt, wäre ich, statistisch besehen, vermutlich bereits ein toter Mann. Diese Selbsteinsicht relativiert selbst die unglücklichste Amoure. Nimm dich und dein Seelenheil, verdammt nochmal, nicht so wichtig!
Mein Journalistenleben, das vor mehr als einem halben Jahrhundert mit einem Einsatz bei einer Wattwanderung als mit sieben Pfennig pro Druckzeile entlohnter Schülerreporter der Sylter Rundschau begann, entpuppte sich immer wieder als faszinierendes Studium generale, für das ich – nach den ersten Praktika beim NDR-Bücherjournal – die Universität Konstanz bald liebend gern verließ. Nahezu im Wochenrhythmus ein neuer, zudem meist gut bezahlter Erkenntnisgewinn, das macht süchtig. Das Festklammern an diesem Beruf war kein Weglaufen vor den Folgen des Zuckers, sondern für mich der einzig denkbare Weg der Selbsttherapie. Sie hat angeschlagen. Arbeitend habe ich Freude im Leben, bis heute. Trotz allem.
Den Weggefährten aber habe ich bis vor Kurzem, soweit es irgend ging, meinen Gesundheitszustand und dessen Ursachen verschwiegen, aus Scham – und auch aus Angst, die Kollegen in den Redaktionen würden einem Kranken wie mir keine kräfteaufreibenden, aber genau darum so interessanten Aufträge mehr zumuten. Dreimal lag ich in der Klinik während der vergangenen zwei Jahre, für jeweils vier Wochen, bei gesunder, aber karger Kost. Das bedeutete neunzig Tage Verdienstausfall. Mangelhaft durchblutete Zehen sind schwierige Patienten. Die Folge war nackte Existenzangst; als gänzlich Freischaffender bekomme ich keinen Verdienstausfall.
Von meinem Diabetes wussten nur wenige enge Freunde. Den anderen habe ich erzählt, ich sei in Ferien beziehungsweise im Sanatorium – oder hätte mir eine Auszeit für ein neues Buch genommen. Unangenehm berührten mich jedes Mal die empathischen Nachfragen, wohin die Reise denn gegangen sei, ob die Kur angeschlagen habe und es gut vorangehe mit dem Manuskript. Lebenslügen sind anstrengend, erst recht, wenn sie sich häufen.
Nein, die Operationen waren nicht das Schlimmste. Der Vorderfuß ist ohnehin weitgehend taub. Die Nerven spüren nichts mehr. Einzig der vorbereitende Eingriff, die Erweiterung der verstopften Beinarterien mittels eines Ballonkatheters, hat jedes Mal höllisch wehgetan. Weit mehr aber quälten mich die Fragen: Wird die Wunde heilen, werde ich, von den Ärzten für Wochen zu Krücken verdonnert, je wieder selbständig laufen und arbeiten können? Wer meiner Kollegen wird angesichts meiner verordneten orthopädischen Schuhe – ich besitze gerade einmal zwei Paar – als erster Verdacht schöpfen? Und, vor allem, wie wird meine künftige Frau mit einem Mann klarkommen, der sein Spiegelbild oft nicht erträgt und zunehmend Komplexe entwickelt? Sandalen sind tabu. Ins Schwimmbad, an den Strand oder in die Sauna traue ich mich kaum noch mit meinen zwei abhandengekommenen Zehen. Vermutlich folgt bald ein dritter, der nur durch einen chirurgischen Kunstgriff für absehbare Zeit gerettet werden konnte. Der Verfall schreitet voran. Ich kann ihm zusehen.
Die Begleitumstände der beiden bisherigen Amputationen waren kurios und bezeichnend. Zuerst war der linke Zeh an der Reihe. Ich hatte Anfang 2018 eine kleine Druckstelle nicht ernst genommen. Ich hielt das für harmlos. Doch dann begann sich die Wunde zu entzünden. Der dringlichen Weisung meines Arztes, strikte Bettruhe zu halten und mich in der Kunst der Demobilisierung zu üben, befolgte ich nicht. Ich flog lieber nach Tunis, um dort für 3sat-Kulturzeit dem verflogenen Aufbruchsgeist der Jasminrevolution der Jahre 2010/2011 nachzuspüren. Es waren hochinteressante Tage. Aber ich kehrte zurück mit einem schwarzvioletten, rundum nekrotischen Zeh.
Sein Bruder auf der rechten Seite kam mir ein Jahr später auf ähnliche Weise abhanden. Auf der Unterseite des »Digitus pedis« vergrößerte sich ein blutender Riss. Ich hatte mich schon in der Sprechstunde meines Frankfurter Diabetologen angemeldet, der mit seinen weit über siebzig Jahren zugleich ein begnadeter Wundarzt ist und mögliche Entzündungen, noch bevor die Erreger im Labor ermittelt werden, erst einmal mit seinem Geruchssinn auszumachen vermag. Doch dann kam ein überraschender Anruf von den ZDF-Kollegen aus der Berliner aspekte-Redaktion. Es war ein Dienstag, kurz vor elf Uhr. Zwei Tage zuvor hatte ein dumpf nationalistischer Attentäter voller Hass Danzigs liberalen Stadtpräsidenten Paweł Adamowicz auf offener Bühne niedergestochen und tödlich verletzt. Ob ich mir zutraue, bis zum Sendungs-Freitag, also binnen achtzig Stunden, vor Ort ein aktuelles Stimmungsbild über die aufpeitschende Rolle der stramm nationalistischen Staatsmedien in Polen zu zeichnen?
Augenblicklich war die schlimme Zehe vergessen. Ich nahm die Herausforderung mit Begeisterung an und machte mich schnurstracks auf den Weg nach Polen, sprach mit Freunden des Ermordeten und aufgebrachten Demonstranten. Nebenbei verpflasterte ich, im Rausch des großen Gefechts, meine Wunde sorglos und bekennend dilettantisch. Der kurze Bericht ging, wenn auch mit Ach und Krach, pünktlich auf den Schirm. Der rechte Zeh allerdings war danach nicht mehr zu retten.
Mediziner mögen den Kopf schütteln, aber aus meiner Sicht habe ich beide Male die richtigen Prioritäten gesetzt. Der lästige Diabetes wird mich, so lange es irgend geht, in keine Schranken weisen. Dazu ist die Lust zu arbeiten, Konfliktherde zu bereisen, gelegentlich gegen den Strom zu schwimmen und die eine oder andere Kontroverse zu befeuern, einfach zu groß. Aber ich habe es gründlich satt, mit meiner Krankheit, über die zu sprechen vielen so schwerfällt, aus Scham länger hinterm Berg zu halten.
Ein weiteres Beschweigen des Desasters wäre inkonsequent. Schließlich habe ich 2008 und 2009, erst in einem Text fürs Feuilleton der FAZ, dann in einem Buch, die Demenzerkrankung meines Vaters in all ihren Facetten öffentlich gemacht. Das tat weh. Aber ich wollte mit diesem Schritt sein Leiden, das ein millionenfaches ist, aus der gesellschaftlichen Tabuzone befreien und insbesondere die Angehörigen zu einem selbstbewussten Umgang mit der sich radikal verändernden Lebenssituation ermutigen. Krankheit ist nun einmal keine Schande, die es unter den Teppich zu kehren gilt. Aber diese banale Erkenntnis schien viele Kollegen, Verehrer und Freunde meines Vaters zu überfordern. Sie haben in ihm immer nur den streitbaren Tribun am Katheder, den wortmächtigen Denker gesehen, nicht aber den Menschen Walter Jens, zu dessen Dasein eben auch sein langes Erlöschen gehörte.
Der Shitstorm, der über mich, den Überbringer der traurigen Nachricht vom Tübinger Apfelberg, in einigen Leitmedien und im Netz hereinbrach, hat mir letztlich die Notwendigkeit meines öffentlichen Weckrufs bestätigt. Ich bereue keine einzige Zeile. Aber jetzt scheint es mir ein Gebot der Redlichkeit, die Probe aufs Exempel zu machen und mich der eigenen, letztlich unumkehrbaren Krankheit zu stellen, in der Hoffnung, dass sich so mancher auf seine Weise in meiner vertrackten Geschichte wiedererkennt. Auf Gegenwind bin ich gefasst. Er ist durchaus erwünscht.
Seit geraumer Zeit habe ich meine Zelte in Frankfurt abgebrochen. Möbel und Bücher sind in einem Praunheimer Schuppen eingemottet. Der Hessische Rundfunk mit dem Funkhaus am Dornbusch, der mir, obwohl Freiberufler aus Passion, publizistische Heimat über mehr als dreißig Jahre war, ist nach der Finte eines falschen Freundes schmerzliche Vergangenheit. Heute lebe ich mitten in der Altstadt von Sarajevo. Tribut an meine große Liebe, die es, als ihr Vater auf Leben und Tod verunglückte, 2015 von Deutschland zurück nach Bosnien verschlug. In diesem Text soll sie Toni heißen. Toni, meine gescheite, herzenswarme und wunderschöne Frau mit der langen blonden Mähne, ist seit einem Jahrzehnt mein Fels in der Brandung.
Beinah genauso sehr aber bin ich vernarrt in die grandiose, bis heute tief zernarbte bosnische Metropole. Der Flecken ist mir ans Herz gewachsen, auch darum, weil sich in ganz Europa wohl kein anderer Ort findet, an dem man das mir wesensfremde Weihnachtsfest so freudig vergessen kann. Im öffentlichen Leben findet es schlichtweg nicht statt. Sogar die Schalter der Banken sind besetzt. Als Kompensation gibt es kurz darauf gleich zwei Neujahrsfeiertage – und auch der Tag der Arbeit, wenn weltweit alle Räder stillstehen, wird hier achtundvierzig Stunden lang begangen. Wenn schon Pause, dann richtig! Nur der Supermarkt um die Ecke hat tagtäglich vierundzwanzig Stunden lang geöffnet. Dort packt die freundliche Mitarbeiterin an der Kasse der Kundschaft noch die Ware in die Einkaufstasche. Die deutsche Servicewüste scheint Äonen entfernt.
Schaue ich aus den Fenstern meiner Altstadtwohnung in der Strossmayerova, der von den Zeitläuften gezeichneten Prachtstraße, dann sehe ich auf die Kathedrale mit der überdimensionalen Statue von Papst Johannes Paul II. davor. Jeden Morgen, schlag sechs Uhr, bimmeln die Kirchenglocken im Sturmgeläut. Minuten später ruft der Muezzin vom Turm der nahen Moschee. Und vom Schreibtisch aus schaue ich auf die gegenüberliegende Hauswand mit den »Rosen von Sarajevo«, den Einschussspuren der Granaten aus dem elenden Bürgerkrieg. Wenn Besuch aus Deutschland kommt, fahren wir zu den Ruinenfeldern hinaus, die von Olympia 1984 blieben: Die beiden Schanzen am Berg Igman rotten auf bis heute vermintem Terrain. Die Bobbahn, hoch über der von Bergen eingekesselten Stadt, einst eine der modernsten der Welt, verkam in der Völkerschlacht zum Schützengraben. Keine Athleten mehr weit und breit. Für die Wiederherstellung der Piste fehlt das Geld. Dafür rückten die Graffiti-Künstler der Stadt an und übermalten die Löcher im Asphalt mit leuchtend bunten Farben. Hier lässt sich Zeitgeschichte atmen.
Ab und an schlendere ich über den Friedhof, der, auf einem Hügel gelegen, eine Armada von Kriegstoten beherbergt. Ahmic und Ekrem, Selma und Zahid. Viele wurden nicht einmal zwanzig Jahre alt. Tausende Namen in grauen Stein gemeißelt, während der Rest von Europa so jämmerlich wegsah.
Die Armut ist auch ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Blutvergießens groß. Im Zentrum drängeln sich die Bettler. Alte Frauen. Kriegsveteranen, Versehrte, die stumm und oft verschämt ihre offene Hand hinhalten. Manche sitzen selbst im oft strengen Winter auf den kalten Pflastersteinen. Kinder verkaufen Papiertaschentücher für ein paar Feninge. Eine nennenswerte Alterssicherung gibt es nicht. Und wer noch arbeiten kann, der muss sich im Schnitt mit einem Monatseinkommen in Höhe von 600 bosnischen Mark begnügen. Das sind gerade einmal 300 Euro. Und die Jobs sind meist unsicher. Sieben Tage Kündigungsfrist für Angestellte! Das staatliche Gesundheitssystem ist desolat.
Sanjin, der mich in der Vinothek drei Häuser weiter mit köstlichen Weißweinen aus der Region versorgt, ist Diabetiker wie ich. Endokrinologen auf dem neuesten Stand der Forschung aber gibt es hier kaum, von einigen Spezialisten abgesehen, die nur Barzahler behandeln. Mein bosnischer Leidensgenosse, gerade einmal dreißig Jahre alt, holt sich seine Behandlungsinformationen weitgehend aus dem Internet. »Was bleibt mir anderes übrig?«
Immerhin: die wichtigsten Medikamente sind auch in Sarajevos Apotheken erhältlich – und kosten oft ein Drittel des Preises, der in Deutschland erhoben wird. Die Pharmaindustrie hat in ihrem Geschäftsgebaren augenscheinlich viel Handlungsspielraum.
Von Larmoyanz ist in der Stadt wenig zu spüren. Die Straßen sind bevölkert von Menschen, die auf wundersame Weise heiter und entspannt wirken. Senioren spielen im Park Freiluftschach, Sonnenhungrige sitzen, selbst wenn es kalt ist, Stunden vor einem einzigen Espresso in Decken gehüllt im Straßencafé oder teilen sich eine Pizza zu dritt – und kein Wirt, der sich daran störte. Auf den Toiletten freilich ist das Wischpapier oft abgezählt, aus Angst, einer der Gäste könnte gleich die ganze Rolle klauen.
Über ein verwittertes Gleisbett rumpeln die Straßenbahnen. Die Tram ins Stadtzentrum gehört zu den ersten Linien in Europa, 1895 als Modellversuch in Dienst gestellt, um ein erstes Massenverkehrsmittel für Wien im Kleinen auszutesten. Hier feierten die Pioniere des technischen Zeitalters frühe Triumphe. In Sarajevo liegen aber auch die Wurzeln des Ersten Weltkriegs begraben. Hier fand im Juni 1914 mit der Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand unweit der Lateinerbrücke die österreichisch-ungarische K.-u.-k.-Monarchie ihr symbolisches Ende. Im Sommer strömen Touristengruppen, darunter auffallend viele Chinesen und Japaner, im Zehnminutentakt an den Tatort.
Ich lebe in einer Welt, von der ich dachte, dass sie längst untergegangen ist, an einem Schnittpunkt von Orient und Okzident, mitten in Europa und doch noch weit, weit weg von der EU und ihrer Währung. Moscheen aus der Zeit der Osmanen. Stolze Bauten aus der Habsburger-Zeit machen die Ära von Kaiser Franz Joseph noch einmal lebendig. Die Markthalle schaut aus wie ein Tempel. Wenige Schritte weiter beginnt das Morgenland: die kopfsteingepflasterte Altstadt, die Bašcaršija, der Basar aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Ich geistere durch ein Labyrinth von engen Gassen. Tauben fliegen um die baufälligen, mit roten Dachziegeln gedeckten Gemäuer. Durchs Schaufenster sehe ich Handwerkern zu, deren Professionen bei uns schon seit Äonen aus der Zeit gefallen sind: dem korpulenten Motorenwickler, dem silberhaarigen Graveur.
Zum Auftakt des Tages ein frisch gepresster, zudem zuckerfreier Granatapfelsaft. Und zweimal pro Woche geht es zum Barbier, der seiner Kundschaft nicht allein mit dem Rasiermesser die Barthaare stutzt, sondern uns Männer zugleich in der Tugend der Geduld unterweist. Eine Stunde Wartezeit – und keiner, der sich beklagte! Hier ist Muße, ein gewisser Schlendrian regiert den Alltag. Wenn nur die Landessprache mit ihren sieben grammatikalischen Fällen nicht so elend kompliziert wäre. Aber auch mit Englisch und vor allem mit Deutsch, das hier viele der einstigen Bürgerkriegs-Asylanten zumindest bruchstückweise beherrschen, kann ich mich fürs Erste durchschlagen. Doch da besteht in der Tat Nachholbedarf.
Vermutlich war der orientalische Sebilj-Brunnen auf dem Marktplatz der Altstadt, das Wahrzeichen Sarajevos, mein Schicksal. Wer daraus trinkt, erzählt die Legende, der ist verzaubert, der kehrt immer wieder zurück, der kann von der freundlichen Stadt nicht mehr lassen. Toni und ich haben, als ich sie vor Jahren das erste Mal in Sarajevo besuchte, beide spät in der Nacht einen großen Schluck genommen. Das sollte weitreichende Folgen haben, vor allem für die Meine. Toni hatte für die Zeit, in der sie sich in Bosnien um ihren verunglückten Vater kümmern wollte, bei einem Akademiker-Ehepaar, das sie lange kannte, befristet auf ein halbes Jahr einen Job als Nanny angenommen. Zwei Kinder, er sieben, sie neun Jahre alt.
Eines Abends – ich war gerade in Sarajevo angekommen und wartete im Hotel Europa auf ein Wiedersehen – rief sie mich an. Sie könne nicht vorbeikommen, sie müsse bei den Kleinen bleiben. Die schon zuvor schwierige Situation zwischen den Eltern eskaliere. Die Mutter – nennen wir sie Elisa – wolle ihren Mann heute nacht in flagranti bei seiner Geliebten ertappen. Ich war enttäuscht. Mussten die beiden ihr Strindberg-Drama ausgerechnet heute zum Besten geben?
Die eigentliche Tragödie aber sollte erst folgen. Nachts um drei kehrt der offenbar notorisch treulose Gatte ins Wohnhaus zurück. Nicht aber Elisa. Am nächsten Morgen wird ihr Auto unverschlossen gefunden. Wenig später nimmt die Polizei die Ermittlungen auf. Bei seiner Vernehmung verwickelt sich der Ehemann in Widersprüche. Eine Woche nach dem rätselhaften Verschwinden rückt ein Streifenwagen bei Toni und den zwei Kindern an und verhaftet den Herrn des Hauses wegen dringlichen Mordverdachts. Einige Monate später wird Elisas Leiche von Spaziergängern gefunden.
Toni wollte nie Kinder haben. Jetzt hatte sie ohne eigenes Zutun gleich zwei. Die Eltern der getöteten Frau, sie gehören zu den Honoratioren der Stadt, haben sie bekniet, bei ihren über Nacht zu Waisen gewordenen Enkeln zu bleiben. Das war verständlich. Sie bekommt ein überaus faires Angebot. Aber was bedeutete das für uns? Ein ewiges Pendeln, da waren wir uns einig, würde unsere Liebe auf Dauer mit Gewissheit zerstören. Die zwei Kleinen aber durfte sie nicht im Stich lassen. Die Lage schien ausweglos. Freunde, hier wie da, rieten zur Trennung. Das war vielleicht vernünftig, doch für uns unvorstellbar. Die einzige Lösung, die aus meiner Sicht blieb, war ein Umzug nach Sarajevo, um von dort aus auch in Deutschland zu arbeiten. Mit über sechzig Jahren noch einmal ein neues Leben wagen – die Idee war reizvoll und beängstigend zugleich.
Ich habe meinen Entschluss nicht bereut. Hier ist vieles so wohltuend anders als in meiner früheren Heimat Frankfurt, auf dem teuer herausgeputzten Römer, auf der glattpolierten, von rastlosen Menschen im Kaufrausch bevölkerten Zeil. Nur jedes Jahr im August verändert sich das Gesicht der gemächlichen Stadt über Nacht. Dann herrscht Ausnahmezustand. Vor dem Nationaltheater wird der rote Teppich ausgerollt. Cafés, Bars und Restaurants haben nahezu rund um die Uhr geöffnet. Musik dröhnt durch die Straßen. An Schlaf ist kaum zu denken. Für acht Tage ruft das Sarajevo Filmfestival! Es ist Kino-Contest und Friedensfest zugleich. 1995, in den letzten Monaten der Belagerung, wurde es in einem halbwegs bombensicheren Keller aus der Taufe gehoben, um in der zerstörten Stadt, so der Gründer des mittlerweile international renommierten Wettbewerbs, »zwischen Trümmern das Leben zu feiern«. Der Satz vom Leben inmitten von Trümmern gefällt mir.
Aber ich kann die Entwicklung meines Diabetes hochrechnen. Irgendwann ist vermutlich der Vorderfuß an der Reihe. Dann werde ich ohne Prothese nicht mehr laufen können. Treppensteigen erst recht nicht. Die zweiundachtzig Stufen zu meiner Wohnung im dritten Stock werden über kurz oder lang ein unüberwindbares Hindernis sein. Es gibt keinen Fahrstuhl. Noch tut mir die Anstrengung mehrmals am Tag sogar gut. Vor allem: Noch kann ich arbeiten – mit ungebrochenem Vergnügen. Mein reichlich zerfledderter Reisepass ist randgefüllt mit bosnischen Stempeln. Die Grenzer am Flughafen kennen mich schon und schauen ein wenig ratlos in mein Reisedokument. Warum nur kehrt der Inhaber nach jedem Arbeitsauftrag immer wieder an die Miljacka zurück, die durch Sarajevos Innenstadt fließt? In Sarajevo wollen so viele nur das eine: Abhauen in die vermeintlich bessere EU-Zone, nach Deutschland, Frankreich oder Schweden. Dort lockt der Euro. Mich aber fasziniert diese vielfach geschundene und doch höchst vitale Stadt, die allerdings allzuoft im Sumpf einer aufgeblähten, in Vetternwirtschaft ertrinkenden Administration versinkt. Diesen Fluch sollte ich am eigenen Leib erleben, als er mich einmal sogar für vier Stunden in den Abschiebeknast am Flughafen brachte.
Wie lang wird der liebgewordene Pendelverkehr zwischen Bosnien und Deutschland andauern? Wie weit werden die Kräfte reichen? Und wer wird, wenn es ganz schlimm kommt, mögliche Alarmsignale als erstes registrieren und Tacheles mit mir reden? Toni, sie ist deutlich jünger als ich, nimmt schon seit geraumer Zeit viel Rücksicht. Mich quält die Frage: Wird sie mir die Wahrheit zumuten, sollte ich eines Tages dement werden? Diabetes ist, sagt die Forschung, ein signifikanter Risikofaktor, der diese Krankheit begleitet. Das Ächzen, die Schreie der Desorientierten, die während meiner Krankenhausaufenthalte nachts über die Flure der Station irrten, haben sich ins Gedächtnis eingegraben. Was würde für mich der Ausbruch des unaufhaltsamen Vergessens konkret bedeuten?
Gegenwartsvernarrt wie ich bin, habe ich mich um Nickeligkeiten wie eine adäquate Altersversorgung niemals gekümmert. Ich habe mir einen Zustand der Untätigkeit nicht vorstellen können: älter und schwächer zu werden, während sich der Diabetes, wie es ausschaut, unaufhaltsam durch den Körper frisst. Ich will, das ist Teil meines Lebensentwurfs, kein Pflegefall werden. Nur, ob ich am entscheidenden Punkt den Mut zum Freitod aufbringe?
Doch allein der Gedanke, auch über mein Ende in Eigenregie entscheiden zu können, hat viel Tröstliches. Nach mir die Sintflut! The party is over. Ich besitze mehr Anleitungen fürs selbstbestimmte Sterben als für den rechten Umgang mit meiner Krankheit. Ausreichend Tabletten habe ich vorsorglich gehortet. In Bosnien nimmt man es mit der Rezeptpflicht angenehm lax.
Aber was täte ich der Frau, die ich liebe, was täte ich meinen Freunden und Kollegen, was täte ich meiner alten Mutter mit diesem Befreiungsschlag an? Und was müssten Patricia und Christian in Luxemburg meinem kleinen Patensohn Jules erzählen? Die Situation ist komplex. Es gibt keine einfachen Lösungen.
Für jeden Diabetespatienten sind Bewegung und gesunde Ernährung zweifellos hilfreich. Dennoch versteht sich dieser Bericht als Kontrapunkt zu all den betörend schlichten Ratgebern, die seit langer Zeit den Markt überschwemmen … Diabetes rückgängig machen, »endlich eine natürliche Heilung« – das suggeriert: die Rettung scheint im Handumdrehen möglich. Good bye Diabetes. Wie Sie den Blutzucker am Kochtopf einstellen – lauter vermeintlich spielend leichte Patentrezepte. Selbst ein abgewracktes RTL-Urgestein, zuletzt als Fernseh-Bergretter aktiv, meldet sich zu Wort und verspricht, da er Zeit hat und nicht gerade Aktien empfiehlt, den Aufbruch in eine Zukunft, in der alles wieder im Lot ist: »Diabetesfrei in nur 28 Tagen« posaunt eine »vertrauliche Mitteilung von Hans Meiser«, die – warum auch immer – in meinem Mailaccount landete. Hat da am Ende jemand meine Patientendaten verhökert?
Gewiss, es gibt auch Projekte jenseits der Scharlatanerie: Internetplattformen wie das »Diabetes-Forum«, auf dem eine verschworene, zumeist anonym, unter Fake-Namen korrespondierende Gemeinschaft ihre Erfahrungen mit der Krankheit austauscht. Man pflegt einen eigenen Jargon und nennt sich vertraut »Penner« (Insulin-Stift-Benutzer) oder »Pumpis« (das sind die mit der automatischen Pumpe am Gürtel). Dazu gibt es praktische Tipps für den Alltag, ein Verzeichnis hilfreicher Adressen und ein ungemein brauchbares Lexikon medizinischer Fachbegriffe. Aller Ehren wert ist auch eine publizistische Anstrengung wie das Diabetes-Journal, das Monat für Monat, in einer Auflage von siebzigtausend Exemplaren in ansprechender Form und wissenschaftlich fundiert über Möglichkeiten des Umgangs mit der Volkskrankheit informiert: Ideen zur Ernährungsumstellung, Präsentationen von neuen Messverfahren, Insulinpumpen-Tests, Rechtsberatung, Fitness-Ideen oder weltweite Reiseberichte. Die todbringenden Gefahren des Diabetes für die Patienten werden keineswegs verschwiegen, auch wenn die Coverseiten meist kerngesunde Gesichter zeigen, die recht penetrant einer vermeintlich sorgenfreien Zukunft entgegenlächeln.
»Diabetesmanagement« lautet die Zauberformel. Oberste Leserpflicht scheint die Akzeptanz des eigenen Siechtums. Wir sollen, appelliert eine Kolumnistin im Januar 2020, das Datum, an dem wir von unserem Diabetes erfuhren, gar zum Feiertag, zum »Diaversary« erheben, ein Kerzlein entzünden, um uns und unseren Lieben zu demonstrieren, dass wir unseren Frieden gemacht haben mit dem elenden Zucker: Diabetes als Lebenspartner, bis dass der Tod uns scheidet. Ich mag dem Appell zur Zwangsheirat nicht folgen.
Die Verheißung, die eigene Krankheit überlisten zu können, ist, global besehen, längst zum Milliardengeschäft geworden. Alljährlich am 14. November, wenn die Tage dunkel sind und die Weihnachtsmärkte allmählich mit dem Aufbau der Glühweinbuden beginnen, wird, auch in Deutschland, Weltdiabetestag gefeiert – die Veranstalter der »Zentralen Patientenveranstaltung« sprechen von einem »Event«, dem »Weltdiabetes-Erlebnistag«. Fachvorträge werden gehalten, in Partyzelten präsentieren Pharmaunternehmen ihre neuesten Produkte. Jeder der siebentausend Besucher darf sich einmal kostenfrei in den Finger stechen. Am Ende des Showblocks animierte eine Stimmungskanone aus Wiesbaden zum »Rudelsingen«. Fehlt nur noch der Aufruf zum kollektiven Krückenschwingen! Die Schirmherrschaft hat der Bundesgesundheitsminister übernommen.
Höhepunkt der Sause ist ein bundesweites Lichterspektakel am Abend. Brücken, Kirchen, ja sogar das Berliner Sony-Center erstrahlten schon in hoffnungsfrohem Blau, weil die Farbe – wie es in einem Internetportal heißt – nun einmal »den alle Nationen umspannenden Himmel und gleichzeitig die Flagge der Vereinten Nationen« symbolisiere. Geht es nicht vielleicht auch eine Nummer kleiner? Der Diabetes ist eine Krankheit und keine Konfession. Ich jedenfalls habe nicht die geringste Absicht, mich mit dem tückischen Monster in mir zu versöhnen, das unberechenbar scheint und penetrant nach Aufmerksamkeit verlangt. Stress mag es gar nicht, genauso wenig wie Cola, Limonade oder Tiramisu. Mit fettem Essen darf man ihm nicht kommen. Sein Verhältnis zum Alkohol freilich scheint ambivalent. Wein oder Schnaps verschärfen die Angriffslust auf die Leber, auf die Nerven – und stimmen den Diabetes doch gnädig. Die Glukosewerte purzeln nach unten.
Meine Erfahrungen mit dem zuckersüßen Erzfeind rufen Erinnerungen an die schaurigen Struwwelpeter-Moritaten wach: Weh dem, der sich nicht fügen und auf die Warnungen nicht hören will! Dem am »Pollex« nuckelnden Konrad werden vom Schneider die Daumen mit einer furchteinflößenden Schere abgeschnitten. Der Diabetespatient, der dem Doktor nicht folgen will, verliert seine Zehen, später Füße und Beine, immerhin unter Narkose. Hier wie dort ist das Strafregister drakonisch.
Dabei hatte ich für meinen Ungehorsam, so widersinnig es klingt, alternativlose Gründe. Das Leben ohne Zügel, bestimmt von der Freude, als Reporter die Welt zu erleben und zu beschreiben, war einfach zu schön. Ich möchte in der Rückschau, trotz aller Blessuren, kaum einen Tag missen. Aber meine Fixierung auf den Beruf und der Verlauf meiner Krankheit gehen miteinander einher. Es sind zwei Seiten ein und derselben Medaille.
Ich habe allen Grund zur Dankbarkeit. Mein Leben war erfüllt und rund. Über weite Strecken genieße ich es noch immer. Und doch bin ich auf der Zielgeraden vermutlich zu einem lehrreichen Beispiel geworden, wie man schon der Selbstachtung wegen – und mehr noch: aus Rücksicht auf seine Nächsten – tunlichst nicht mit dem Diabetes umgehen sollte. Nur: Selbstmitleid, spätes Lamentieren hilft nichts. Weiser Hugo von Hofmannsthal! Der lässt seinen Jedermann, den Lebemenschen am Abgrund, in seinem Bühnenspiel rührselig lamentieren, als ihm der Tod entgegentritt: »O weh! Nun ist wohl Weinens Zeit.«
Der Sensenmann kontert lakonisch: »Mit Weinen wird nur Zeit vertan.«
Gevatter Hein hat recht. Dennoch, die letzte Biegung des Wegs, für den ich mich aus freien Stücken entschied, wird, so wie es ausschaut, bitter.

02
In der Risikogruppe

Tonis Stimme bebt. »Die haben die Grenzen dichtgemacht!« Ich bin an diesem 14. März 2020 für eine kleine Fernseharbeit in Leipzig, die Liebste ist daheim in Sarajevo. Beim Aufbruch hatte ich meinen Koffer nur für knapp eine Woche gepackt. Aber binnen Stunden werden über Sarajevo in der anrückenden Corona-Pandemie strengste Ausgangssperren verhängt – früher und deutlich härter als in Deutschland. Militärpatrouillen zeigen Dauerpräsenz. Toni schickt Fotos von entvölkerten Straßen. Der öffentliche Nahverkehr ist eingestellt, der Flughafen geschlossen. Lebensmitteleinkäufe sind nur wenige Stunden am Tag gestattet.
Mich hätte es hier ärger als in Deutschland getroffen. Beschönigung hilft nichts: In Bosnien zähle ich ganz offiziell zur Risikogruppe. Mit dem Eintritt ins fünfundsechzigste Lebensjahr – bei mir geschah das Malheur im September 2019 – senkt sich im Zeichen des Virus der Daumen der Behörden: Drei Vormittage pro Woche darf unsereins noch vor die Tür, für den Rest der Zeit sind wir unter Hausarrest gestellt. Altersbegrenzungen kannte ich bislang nur aus meinen Tübinger Jugendjahren. Filme im Kino waren freigegeben ab sechs, zwölf, sechzehn oder achtzehn Jahren, galten als jugendfrei oder nicht. Es ist kein freundliches Frühlingserwachen.
Risikogruppe – welcome to the club! Das Stigma schmerzt und deutet auf Finales. Wer hier hinzugerechnet wird, der sieht sich ausgegrenzt und aussortiert. Der kann sich den Glauben an Zukunft aus dem Kopf schlagen – und das, wie sich versteht, keineswegs nur auf dem Balkan. Die Türkei, wo das Arretieren zum Alltag gehört, mag da nicht hintanstehen. Die Bild titelt Anfang Juni 2020: »Erdogan sperrt die Alten zeitweise ein.« Und die Alten, das sind auch am Bosporus alle über fünfundsechzig, die nur noch für wenige Stunden vor die Haustür dürfen. Alteisen, lebendiger Schrott.
Mich trifft das Schicksal gleich doppelt. Ich bin vermutlich das personifizierte Risiko. Zum Rentenalter kommt verschärfend der Diabetes hinzu, mit all den bei mir schwer zu leugnenden Folgeerkrankungen. Mediziner sprechen, nicht eben sentimental, von Multimorbidität. Das Robert Koch-Institut empfiehlt uns Risikopatienten in der Corona-Krise, vor allem zum eigenen Schutz, »Maßnahmen der Kontaktreduktion«. Das mag lehrbuchmäßig korrekt sein, aber der Kollateralschaden wäre gewaltig: Mit der journalistischen Arbeit, die sich nie allein auf Begegnungen im Virtuellen stützen können wird, hätte es für mich dann ein Ende.
Die Situation in Sarajevo entwickelt sich derart dramatisch, dass Toni mit ihren beiden Schützlingen in die bosnischen Berge flüchtet. Dort haben die Großeltern der Kinder mitten im Wald ein geräumiges Ferienhaus, in dem sich, wie es ausschaut, dem Virus und dem Weltuntergangsszenario in der Hauptstadt trotzen lässt. Ich sitze derweil weiterhin in Leipzig fest. Manchmal bin ich der einzige Gast eines wohnlichen, kleinen Hotels zu fairen Konditionen und mit einem grandiosen Frühstück, das Morgen für Morgen den Blick in den Tag ein wenig freundlicher gestaltet. Buffet gibt es in diesen Tagen keines mehr, dafür aber werden nach längst verloren geglaubtem Stil Etageren mit Aufschnitt, Konfitüren und Salaten gereicht. Dem Himmel – und den alten Weggefährten von 3sat-Kulturzeit – sei Dank habe ich gut zu tun in diesen einsamen Wochen, in denen ich unbequem viel Zeit zur Selbsteinkehr und zur Auseinandersetzung mit meinem Diabetes habe. Ende April endlich kann ich mein provisorisches Domizil in Sachsen für knapp eine Woche verlassen.
Die auf vierzehn Inseln verteilte Ostseemetropole ruft. Zwei aktuelle Reportagen aus Stockholm! Mit keiner anderen Stadt im europäischen Ausland verbindet mich mehr. 1963, als knapp neunjähriger Steppke, war ich das erste Mal dort. Die Universität und das schwedische Goethe-Institut hatten meinen Vater zu einer vierwöchigen Lesereise eingeladen. Tagsüber besuchte ich die Deutsche Schule im Karlavägen und staunte darüber, dass uns in dieser Vorzeigerepublik, die ich in Astrid Lindgrens Bullerbü-Romanen schon früh liebgewonnen hatte, sogar ein warmes Mittagessen serviert wurde. Und dazu gab es köstliche Preiselbeerlimonade. Solch Fürsorglichkeit wäre damals in Deutschland unvorstellbar gewesen. Da meine Eltern eigentlich rund um die Uhr verplant waren, konnte ich weitgehend auf eigene Faust auf dem täglichen Heimweg ins Hotel am Skulpturenpark Millesgarden meine erste Großstadt erkunden – ohne ein Wort Schwedisch zu sprechen. Aber Deutsch und wenige Brocken Englisch reichten vollkommen. Es waren, gerade weil es meine Altvorderen mit ihrer Aufsichtspflicht nicht gar zu genau nahmen, famose und richtungweisende Tage.
Immer wieder hat es mich an diesen Ort zurückgezogen. Jetzt erst recht, da das Schärenreich unter dem Corona-Damoklesschwert steht. Weltweit tobt eine erregt geführte Debatte über den »schwedischen Sonderweg«. Die einen schauen mit Sehnsucht auf den skandinavischen Archipel, wo man keinen Lockdown, keine verrammelten Schulen, Spielplätze, Shops, Restaurants oder Kinos kennt; die anderen demonstrieren blankes Entsetzen. Da werde grob fahrlässig die Existenz der gesamten Bevölkerung aufs Spiel gesetzt. Nordisches Roulette! Auf dem verwaisten Frankfurter Flughafen fragt mich die Frau von der Sicherheitskontrolle, die in der Airport-Tristesse augenscheinlich Lust auf einen Schwatz hat, wohin denn meine Reise gehe. Nach Stockholm. »Sie Glücklicher! Dort wissen die Menschen noch, wie die Freiheit ausschaut.«
Die Expedition kann beginnen: Der Konflikt zwischen Selbstbestimmung und dem Diktat, das eigene Leben einer Krankheit unterzuordnen – das ist mein Thema.
Gerade einmal zwei Stunden trennen mich vom verheißenen Paradies. Die Stimmung an Bord ist gespenstisch: Maskierte Flugbegleiter, die wie Katastrophenschutzbedienstete ausschauen, teilen mit versteinerter Miene Wasserflaschen aus, Notrationen gegen den Durst. Ansonsten ist der Service eingestellt. Die Einreise verläuft dann entspannt. Als ich, vorsorglich mit Mund-Nasen-Schutz vermummt, dem dunkelblau uniformierten Grenzposten meinen Pass durch einen verglasten Schlitz reiche, bittet mich der Beamte des Königreichs, zwecks Identifizierbarkeit meinen OP-grünen Gesichtsschleier zu lüften. Sekunden später begrüßt er mich freundlich. »Welcome to Sweden!«
Auf der Taxifahrt zum Hotel verkehrt sich die Zuversicht, die mir die hessische Gepäckinspekteurin mit auf den Weg gegeben hat, ins finstere Gegenteil. »Ihr in Deutschland habt es besser«, sagt mein Chauffeur, ein Pakistani, der seit dreißig Jahren in Skandinavien lebt, »ich fühle mich in großer Gefahr. Und mit dem Wohlstand ist es vorbei. Allein in Schweden hat die Fluggesellschaft SAS heute zweitausend Mitarbeiter entlassen.«
Konträrer könnten die Sichtweisen kaum sein. Ich beschließe, vorerst optimistisch zu bleiben, und eile freudetrunken zum in Deutschland so schmerzlich vermissten Friseur.
Das Land erscheint mir, dem Bruder Leichtfuß im Umgang mit seinem Diabetes, selbst im Anblick der Pandemie souverän und entspannt. Man hält Abstand, lässt Verantwortungsgefühl walten und folgt, selbst in der sonst ausschweifend gefeierten Walpurgisnacht, den Anweisungen der Behörden, sich nur noch mit maximal fünfzig Personen in der Öffentlichkeit zu versammeln. Und doch kommt in Schweden alles ganz anders daher. Deutsche Virologen, Stars in Weißkittelkluft, treten zumeist staatstragend in Erscheinung. Sie verkünden ex cathedra, kommunizieren, dem Fußvolk um Äonen entrückt, über Podcasts oder twittern ihre Botschaften trumpgleich ins Tal der Ahnungslosen hinab, an die, wie Helmut Kohl selig einst sprach, »Menschen draußen im Lande«.
Schwedens Staatsepidemiologe Anders Tegnell hingegen, den ich zum Interview treffe, stellt sich, stets in Jeans und leger braunem Pullunder, während der Krise nahezu täglich der Öffentlichkeit und begründet, auch wenn die Kranken- und Todeszahlen in die Höhe schnellen, das Festhalten am eigenen, hochriskanten Kurs. Schwere Versäumnisse in den Altenheimen und den Migrantenvierteln am Rande Stockholms redet er nicht klein. Die Kritik von Kollegen nimmt er ernst. Vermutlich setzt sie ihm auch zu. Aber das Modell Schweden beruhe nun einmal auf Solidarität und der freiwillig übernommenen Verantwortung für die Nächsten. Der Staat habe kein Recht, seine mündigen Bürger zu kujonieren. Daran werde und dürfe auch Corona nichts ändern. Das mag ein Himmelfahrtskommando sein, aber mir gefällt das. Sehr.
((Hier habe ich nicht weiterschreiben können))

03
Die Diagnose

Der Arzt, der dem Diabetes in der griechischen Antike den Namen gab, hat das Martyrium mit angsteinflößender Sprachgewalt beschrieben. Das Siechtum, das allerdings zum Glück nur vereinzelt auftrete, sei eine »rätselhafte Erkrankung« – so beginnt Aretaios von Kappadokien seine diagnostische Betrachtung, datiert aus dem zweiten Jahrhundert nach Christus. Der Doktor berauscht sich an martialischen Formulierungen: »Sie lässt das Fleisch und die Extremitäten in den Urin abschmelzen. Die Patienten hören nicht auf, Wasser zu lassen. Der Durchfluss ist unaufhörlich, ähnlich der Öffnung eines Abgusses (…) Das Abmagern ist fürchterlich. Von dem, was getrunken wird, fließt nur ein geringer Teil in den Körperkreislauf, und ein Großteil des Fleisches wird zusammen mit dem Urin ausgeschieden.« Die unaufhaltsame, todbringende Harnruhr! Diabetes, auf Deutsch: Siphon. Der Körper des Patienten erinnert ihn an eine Kloake.
Seit jeher haftet der Krankheit der Geruch des Unappetitlichen an. Das macht ein Outing, den offenen Umgang mit ihr nicht leichter. Der Diabetiker des Typs 2, der seine Krankheit oft mit eigenem Zutun erwirbt (zu dieser Gruppe gehören über neunzig Prozent aller Betroffenen), erscheint, denken wir an die Buddenbrooks, als ziemlich erbärmliche, lebensuntaugliche Figur. »James Möllendorpf, der älteste kaufmännische Senator, starb auf groteske und schauerliche Weise. Diesem diabetischen Greise waren die Selbsterhaltungstriebe so sehr abhanden gekommen, daß er in den letzten Jahren seines Lebens mehr und mehr einer Leidenschaft für Kuchen und Torten unterlegen war.«
Weder die Familie noch der Hausarzt haben den kranken Kaufmann aus Lübeck von seinem Weg ins Unheil abbringen können. In seinem Jahrhundertwerk zeigt Thomas Mann nicht eben Mitgefühl mit dem heißhungrigen Hanseaten, weit eher unverhohlenen Spott. Senator Möllendorpf endet als Karikatur. »Geistig gebrochen, wie er war, hatte er sich irgendwo in einer unstandesgemäßen Straße (…) ein Zimmer gemietet, eine Kammer, ein wahres Loch, wohin er sich heimlich geschlichen hatte, um Torte zu essen. Und dort fand man auch den Entseelten, den Mund noch voll halb zerkauten Kuchens, dessen Reste seinen Rock befleckten und auf dem ärmlichen Tische umherlagen. Ein tödlicher Schlaganfall war der langsamen Auszehrung zuvorgekommen.«
Der Diabetes gerät, ähnlich wie die Syphilis oder die Schwindsucht, zur Metapher des physischen und des gesellschaftlichen Ruins. Thomas Mann zitiert ein Stigma herbei, das bis in die Tage des antiken Arztes Aretaios zurückreicht. Die Körper seiner Patienten, schrieb der erste Chronist meiner Krankheit, seien »als ob durch Feuer verdorrt«. Das klingt nach einem Strafbefehl der Götter, die da eine neue Plage über die Menschheit geschickt haben. Ihr Sünder sollt bei lebendigem Leibe austrocknen im großen, unstillbaren Durst! Trinken hilft dem Diabetes-Delinquenten nichts mehr. Jedes hinuntergespülte Glas wird augenblicklich wieder ausgeschieden. Der gepeinigte Körper verlangt unendlichen Nachschub. Die Spekulationen schießen ins Kraut. Ursache sei möglicherweise der Biss eines Reptils, das »Dispas, die Durstschlange genannt wird«.
Der Mediziner aus Zentralanatolien wusste noch nichts von den komplexen Ursachen des Diabetes, vom blockierten Zuckerstoffwechsel, der Fehlfunktion der Pankreas-Inseln und vom honigsüßen Urin. Und doch hat der wortgewaltige Pionier der Heilkunst schon damals viel Wahres erkannt. Der von ihm diagnostizierte Teufelskreislauf des kaum zu löschenden Dursts ist mir durchaus vertraut. Ich entsinne mich noch genau, wie ich von meiner Krankheit erfuhr.
Vor mehr als zwanzig Jahren blätterte mein sinnenfroher Freund Heribert Schwan, mein Lieblingsredakteur beim Westdeutschen Rundfunk über Jahrzehnte, in seinem Kalender mit den bevorstehenden Jubiläen und hatte, wie ich fand, eine famose Idee: Im Oktober 1998 werde der legendäre, ab Ende der Sechzigerjahre bundesweit mit so viel bigotter Moral überschüttete Sexualaufklärer Oswalt Kolle sein siebzigstes Wiegenfest feiern. Das wäre doch Anlass genug, den »Liebeslehrer der Nation«, der zur hellen Empörung von Kirchenführern und Jugendschützern als erster einen erigierten Penis auf die bundesdeutschen Kinoleinwände gebracht hatte, ausgiebig zu würdigen. Unter Einschaltquoten versprechender Verwendung der alten Skandalfilme, versteht sich. Noch einmal also Das Wunder der Liebe, Deine Frau/Dein Mann/Dein Kind, die stets »unbekannten Wesen«! Schwan besorgte, auch darin war er ein unvergleichlicher Meister seines Fachs, unmittelbar vor dem Geburtstag einen Sendetermin in der ARD.
Der Auftrag gefiel mir. Familie Kolle, die Eltern, die Kinder, die sich in den Sylter Dünen auch schon mal gemeinsam im Adamskostüm vor der Filmkamera präsentiert hatten, kannte ich seit den Tagen meiner Kindheit. Ihr Reetdachhaus, das »Storchennest« am Kampener Wattenmeer, befand sich vis-à-vis des Feriendomizils, in dem unsere Familie über Jahrzehnte hinweg die Sommerwochen verbrachte. Mein Vater befürchtete Schlimmstes: das Geknatter des dreihundert PS starken Sportcoupés mit dem niederländischen Kennzeichen, Lärm und Party ohne Ende. Doch weit gefehlt. Die beiden grüßten einander freundlich und parlierten beim Wegbringen des Mülls zur großen Straße auf beiderseits akzeptierter Augenhöhe, von Aufklärer zu Aufklärer eben. Und ich durfte, wenn kein Strandwetter war, den Pool der Kolles nutzen. Eines Abends wurde ich an der Hausbar mit dem ersten Bacardi-Cola meines Lebens versorgt.
Die alten Kontakte ließen sich rasch wieder knüpfen. Wir verabredeten uns zu einem ersten langen Interview auf Kolles Landsitz unweit von Amsterdam, umgeben von reichlich Grün. Der Hausherr war Jäger aus Passion. An meine erste Frage erinnere ich mich noch: Was hat ihn, den Sexualpionier und Freigeist von der Kieler Förde, hierhin verschlagen? Der Tod! Eros und Thanatos sind einander nun einmal nah. Als Bürger der Niederlande hätten er und seine Frau das Recht, im Fall einer unheilbaren Krankheit Sterbehilfe an Anspruch zu nehmen. Staatliche oder kirchliche Bevormundung war ihm in jeder Hinsicht zuwider – im Bett wie auf der Bahre. Dass Marlies Kolle, gerade einmal zwei Jahre später, gezeichnet von einer aussichtslosen Krebserkrankung – sie hatte sich das metastasierte Rückgrat gebrochen –, tatsächlich den selbstbestimmten Tod in Anspruch nehmen würde, ahnte ich an diesem Sommertag nicht.
Da hat uns Frau Kolle ganz wunderbar bewirtet. Es war warm. Ich hatte, wie so oft, gewaltigen Brand in der Kehle und spülte eine ganze Flasche Sprudel im Sturzbachtempo hinunter. »Hast du vielleicht Zucker?«, fragte sie mich unvermittelt. Sie, die – so ihr Mann in einem späteren Interview – schon damals schwer krank war, kannte sich offensichtlich aus. Stechendes Durstgefühl – bei mir äußert es sich im Verlangen nach eiskalten, stark kohlensäurehaltigen Getränken – ist in der Tat häufig ein verlässlicher Bote des Diabetes. Die Glukose kann nicht mehr ausreichend im Körper abgebaut werden und wandert in den Urin. Dafür aber wird zusätzliche Flüssigkeit benötigt. Um diesen Zirkel wusste ich damals nicht.
Zwei Wochen später – wir drehten den zweiten Teil unserer Fünfundvierzig-Minuten-Doku auf Sylt – suchte ich die Sprechstunde eines alten Bekannten auf, des urgrünen Badearztes von Kampen. Der Doktor ermittelte per Schnelltest einen Blutzuckerwert von 253. Deutlich mehr als hundert Prozent über der Norm. Die Laborbefunde bestätigten den Verdacht: Ich habe Diabetes. Der nordfriesische Hüne verordnete Bewegung, Diät und zwei Medikamente. Eines davon hieß Glucophage, Zuckerfresser zu Deutsch. Der Name gefiel mir – er machte der Hiobsbotschaft zum Trotz Hoffnung. Mit Glück und Selbstdisziplin, so Doktor Ahlborn, hätte ich durchaus Chancen, um die lästige Insulinpflicht herumzukommen. Aber mich fortan mehrmals täglich in den Finger stechen, um meine Werte im Auge zu behalten, das müsse ich schon.
Auf einmal schien die Erklärung für manche Beschwernis gefunden. Für wieviel Ärger etwa hatte meine einst chronisch entzündete, in Intervallen eiternde Vorhaut gesorgt, die schmerzte und in den Augen meiner eindrücklichen, wenngleich notorisch eifersüchtigen Ex-Frau das untrügliche Indiz für permanenten Fremdgang war. Ich entsinne mich noch mit Schaudern an unseren Urlaub in der Camargue, als ich mich heimlich und radebrechend zum Apotheker stahl und um eine cortisonhaltige Salbe bat, die natürlich prompt ihre erhoffte Wirkung verfehlte. Es kam, wie es kommen musste: Die Tage in Südfrankreich gestalteten sich nicht eben harmonisch. Im nachhinein ließ sich wenigstens einiges aufklären. Denn auch derlei Beschwerden im sensiblen Bereich sind ursächlich durch den Diabetes bedingt und waren nun endlich angemessen zu behandeln. Daheim musste ich die bald Abhilfe schaffende Creme nicht länger vor Marta verstecken.
Ich kurierte erfolgreich die wenigen schon damals spürbaren Symptome meiner Hyperglykämie. An die Wurzeln des Übels ging ich nicht. Diabetes, das war für mich ein Synonym von Schwäche und drohendem Siechtum. Mit kindlichem Trotz ließ ich mich, immerhin vierundvierzig Jahre alt, wenige Stunden nach dem erhobenen Befund bei »Fisch-Fiete«, der Keitumer Edelbeize, fürstlich bewirten. Der Rahmsuppe mit Gurke folgte eine Seezunge nebst reichlich geschwenkter Butter, danach – obwohl ich, anders als Senator Möllendorpf, nur selten Heißhunger auf Naschkram verspürte – eine doppelte Portion Rote Grütze, mit Sahne, Vanillesoße und Eis, versteht sich. Drei Schoppen Wein als Begleitung. Einen Aquavit zur Abrundung. An diesem Abend habe ich insgeheim die Weichen gestellt.
Ich verließ mich auf mein profundes Halbwissen und erinnerte mich an das Martyrium von Herbert Wehner. Die Zuckerkrankheit, sagte ich mir, ist letztlich unbesiegbar. Die Schlacht ist verloren. Wunderheilungen sind selten. Selbst bei radikalem Verzicht lässt sich der Niedergang allenfalls ein wenig verlangsamen. Alles andere ist Augenwischerei, feige Vertröstung. Irgendwann – sagte ich mir schon, als ich meine Keitumer Süßspeise löffelte – wird ohnehin der Kollaps folgen.
Vor einiger Zeit hatte ich Stefan Zweigs Ungeduld des Herzens gelesen. Der Roman spielt zwar am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Doch die Abrechnung mit den hohlen Verheißungen der Diabetologen und Ernährungserzieher erschien zeitlos. »Man quälte die Kranken mit einer besonderen Diät, jedes Gramm wurde gewogen, jeder Schluck gemessen, aber die Ärzte wußten (…), daß man damit das Ende nur hinausschob.« Also warum schon jetzt, da der Diabetes mich in keiner Weise behindert, ein reduziertes Leben fristen, maue Kompromisse schließen und in vorauseilendem Gehorsam aus dem Halbleeren schöpfen? Dann lieber ein paar Jahre weniger auf Erden! Eines meiner Lieblingsbilder ist die Kerze, die von beiden Enden her brennt.
So blieben meine Therapieanstrengungen, gelinde gesagt, Stückwerk, obwohl es an professioneller Unterstützung nicht fehlte. Mein Onkel, der Mann der jüngsten Schwester meiner Mutter, einst Ordinarius für Diabetologie in Gießen, hatte mir den Kontakt zu seinem Frankfurter Kollegen geebnet. Der bestellte mich ein und meine damalige Frau beim zweiten Termin gleich mit. Mit drastischer Gewichtsreduktion hätte ich reelle Chancen. Die Ernährungsberaterin im Nebenzimmer gab einschlägige Tipps für eine grundlegende Ernährungsumstellung. Also hat mich Marta, die gigantisch kochen kann, daheim auf Diät gesetzt. Morgens gab es nun Knäckebrot mit Quark und frischen Paprikastreifen, abends Hühnersuppe mit frischen Champignons. Alles liebevoll ausgetüftelt, gut gewürzt und lecker. Doch, es half nichts, die Schonkost führte mir das Vorhandensein des Diabetes, dem ich in meinem Leben keinen Raum geben wollte, jedes Mal aufs Neue vor Augen.
Sobald ich auf Reisen war, kehrten die alten Gewohnheiten zurück. Bei Durchsicht der Restaurantbelege (Marta führte unsere gemeinsame GmbH) geriet meine Frau in Rage – leider nicht gänzlich zu Unrecht. Wozu hatte sie sich all die Mühe gegeben?
Unsere Ehe stand ohnehin auf der Kippe. Die Auseinandersetzungen, die gegenseitigen Vorwürfe wurden lauter und lauter. Im Herbst 1999 brach ich aus, unter nicht eben feinen Umständen. Ich hatte eine neue große Liebe gefunden. Sie soll hier Sybille heißen, eine analytisch-kluge, charmante und sehr karrierefixierte Kollegin. Immer trendy, immer auf den Punkt. Doch anstatt einen klaren Strich zwischen Altem und Neuem zu ziehen oder mich für meine Ehe zu entscheiden oder zumindest meine Entscheidungsunfähigkeit offen einzugestehen, lavierte ich feige. Trennungen, Versöhnungen, Trennungen. Klammheimliche Urlaubsreisen, Abschiedsbriefe, abgefangene SMS-Nachrichten, zertrümmerte Handys. Und viele, viele Tränen. Ich schäme mich bis heute. Aber das macht nichts besser. »An Liebe hat es uns nicht gefehlt«, heißt es in Sybilles letztem Brief. Sie hat, wie so oft, recht gehabt.
Es war für alle, auch für die Freunde, eine zermürbende Zeit. Und mein nicht zuletzt stressgesteuerter Diabetes schlug selbstverursachte wilde Kapriolen, bis ich mit einer akuten Sehstörung auf der endokrinologischen Station im Frankfurter Universitätsklinikum lag. Sybille hat mich dort besucht. Marta muss es geahnt haben und tauchte gleichfalls am Krankenbett auf. Der Klassiker. Der Krawall war gewaltig. Meine Augen haben sich dank ärztlicher Fürsorge trotz allem rasch erholt. In den Spiegel schauen aber konnte ich nicht. Ich log mich durchs Leben, soff wie ein Loch – und flüchtete, wann immer ich konnte. Tief in der Nordsee haben mir Helgolands Trottellummen und Basstölpel zu ein wenig Seelenfrieden verholfen, als ich für die ARD eine Langzeitbeobachtung über die Felseninsel in Angriff nahm, über das Leben im Trubel der Tagestouristensaison und über die Monate im elend langen, dunklen Winter.
Psychisch wie physisch war ich am Boden – und doch in den Jahren der Zerrissenheit so produktiv wie selten zuvor. Als journalistischer Handlungsreisender funktionierte ich noch. Auf Teneriffa gelang es mir, mich im Zuge einer langen NDR-Reportage unter Esoteriker zu mischen, die einsamen Herzen aus ganz Europa das Blaue vom Himmel versprachen und dafür mit erleuchteter Miene horrende Honorare einsteckten. Im texanischen Huntsville traf ich gläubige Christen, die gegen die Todesstrafe kämpften – und solche, die fanatisch für sie plädierten: »An eye for an eye.« In meiner, was die Einschaltquote betrifft, erfolgreichsten ARD-Dokumentation beschrieb ich den Abstieg des Entertainers Harald Juhnke – und die Rolle, die Deutschlands Medien, auch die öffentlich-rechtlichen, dabei spielten. Hatte er denn unbedingt, mit dem eigenen Schicksal kokettierend, Falladas Trinker spielen müssen? Zunehmend packte mich die Neugier auf ein Thema, das auch das meine war: das Leben von Grenzgängern, die am Abgrund stehen und dem Tod ins Auge sehen.
Wohl auch darum habe ich vom Herbst 2001 bis zum Februar 2002 Frank Coiffier, den stasibelasteten Juristen aus Halle an der Saale, in den letzten Monaten seines Lebens begleitet. Am Ende stand eine Winterreise ins Zürcher Sterbeexil. Er war schwer krank, eine Multisystematrophie zerstörte sein Hirn, Schritt für Schritt. Der einst vitale Tischtennisspieler stützte sich mühsam auf einen Stock, lallte zuletzt mehr, als dass er sprach. Jedes Medikament versagte. So wollte er nicht enden und hat Hilfe bei der Schweizer Sterbehilfeorganisation Dignitas gesucht. Wenn er in Deutschland hätte erlöst werden können, hat er immer wieder versichert, wäre er noch eine Weile am Leben geblieben. Aber er hatte Angst, den letzten Moment zu verpassen, in dem er noch mobil war. So nimmt er den Nachtzug von Halle nach Zürich. Seine Frau, von der er seit Jahren getrennt ist, und seine Tochter begleiten ihn und nehmen im Schlafwagen Abschied. Mein lebenserfahrener Kameramann Uwe Pohlig und ich reisen im Nachbarabteil mit.
Am nächsten Morgen geht dann alles ganz schnell. Ein betagter Kinderarzt, seit langem Aktivist im Dienste der Schweizer Sterbehilfebewegung, stellt ein Rezept aus für eine tödliche Dosis Pentobarbital. Nach einem kurzen Umweg über die Apotheke fährt die Familie ins karg möblierte Totenhaus, in dem die Sterbebegleiterin schon wartet. Auf dem Tisch des Nebenzimmers steht ein Wasserglas. Wie sollen wir uns verabschieden? Wir sagen Adieu, weil die Formel »Auf Wiedersehen« angesichts der Situation gar zu makaber wäre. Dann nimmt er den letzten Schluck. Drei Stunden später fährt der Leichenwagen vor.
Nein, Frank Coiffier hat sich nicht heimlich davongestohlen und ist dennoch einen einsam-wortkargen Tod gestorben. Er hat über das, was ihn berührte, keine Silbe verloren, dafür aber die Zeitungsabonnements fristgerecht gekündigt, Strom und Wasser abbestellt. Sein letzter Satz, bevor er das in Orangensaft aufgelöste Barbiturat schluckte, war eine herrische Anweisung an seine Frau: »Vergiss nicht, wo der Garagenschlüssel liegt.« Da ging ein Leben gefühllos, mit einem finalen zwanghaften Reflex zu Ende. Die Kamera schaffte für den Augenblick heilsame Distanz. Die Grausamkeit der Situation, die Banalität des humanen Sterbens rückten erst Tage später ins Bewusstsein. Dann endlich konnte ich Rotz und Wasser heulen.
Privat kam es, wie es kommen musste. Nach vier unseligen Jahren stand ich am Ende alleine da. Allein in einem schönen, aber viel zu großen Haus mit Garten, allein in meiner Höhle, von der ich mich aus Sentimentalität lange, lange Zeit nicht trennen konnte. Ich weinte den Verflossenen nach, litt unter meinem Dasein als Single und baggerte ohne Fortüne. Die Abende in Frankfurt-Eschersheim, die späten Völlereien beim Italiener um die Ecke, waren einsam, teuer und leider, wie mir mein Diabetologe vorhielt, auch ziemlich ungesund.
Doch das Kranke, Moribunde ist mir, dem Sohn eines schweren Asthmatikers, ohnehin vertrauter als das Unversehrte, das Heile und Normale. Ein Dasein ohne Blessuren war für mich, lange bevor ich Diabetiker wurde, schwer vorstellbar und vor allem gähnend langweilig. Schrunden und Kanten sind nicht Makel, sondern Prädikat. Gibt es gesunde Genies? Mich jedenfalls beschäftigten, bereits in meinen journalistischen Anfängen, die kreativen Verweigerer und Sonderlinge, die schrägen Gestalten, die noch in höchster Bedrängnis imstande waren, aufrecht zu gehen.
»Alles, was ich sage, gilt ja nicht für ganz normale Menschen«, erklärte mir 1982 in flammender Rede der Bewohner einer karg möblierten und ziemlich heruntergewirtschafteten Wohnung in Berlin-Charlottenburg, durch die süßliche Rauchschwaden zogen. »Alles, was ich sage, gilt ja nur für Irre, nur für völlig wahnsinnige Menschen.«
Als ich ihn 1982 traf, lebte er schon in seiner eigenen Welt und saß auf einem Bodenkissen vor seinem mit Graspfeifchen, Stopfern und allerlei Krümeln übersäten Couchtisch. Die schulterlange Indianermähne hing ihm ins Gesicht. Die Zähne waren rar geworden. Von den wachen Augen abgesehen, erinnerte wenig daran, dass diese recht verwegene Erscheinung noch fünfzehn Jahre zuvor ein gefeierter Schauspieler, Schlagersänger, vor allem aber der wohl schnellste, schlagfertigste Kabarettist der Bundesrepublik war: Wolfgang Neuss, der Mann mit der Pauke.
Den Mann, der gelegentlich als Drogenwrack durch die Medien geisterte, wollte ich kennenlernen. Volker Kühns Sammelband, der seine furiosesten Nummern noch einmal vereinte, war ein willkommener Anlass, sich in einem Fernsehportrait – erst als Magazinstück fürs Erste, dann in einem fünfundsiebzigminütigen Special für die dritten Programme – des weitgehend Vergessenen zu erinnern. Ende 1969 hat er sich, ausgelaugt von den stetigen Solo-Tourneen, von Tabletten und LSD, aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Eine Zeitlang war er in Chile verschwunden – und meditierte nun, verarmt und cannabisdauerberauscht, in seiner Westberliner Zweizimmer-Bleibe, die ihm ein Freund aus alten Tagen mietfrei überlassen hatte. Einst war das seine Gästewohnung gewesen. Neuss hatte derweil, drei Stockwerke höher, mit seiner Lebensgefährtin im Penthouse logiert.
Mein erster Besuch in der Lohmeyerstraße geriet zum unfreiwilligen Selbstexperiment. Die THC-geschwängerte Raumluft verfehlte ihre Wirkung nicht. Nach einer Stunde war ich, im Kiffen gänzlich unerfahren, duhn und mental rundum lahmgelegt. Neuss hingegen schien immer neue Bewusstseinsstufen zu erklimmen, assoziierte wild von Breitner zu Bloch und pries, geläutert, die Tugend des Verzichts: »Wenn ich im Eisschrank keinen Pudding habe, dann kann ich ihn auch nicht weglassen. Aber wenn ich jetzt einen Joint rauche und ungeheuren Appetit auf was Süßes bekomme, und im Eisschrank steht Pudding, dann bleibe ich hier sitzen und sage mir: der wird nicht gegessen. Ich gehe sogar in die Küche und schaue mir den Pudding an. Aber ich kehre an meinen Platz zurück. So fängt Askese an. Ich habe den Pudding, doch ich esse ihn nicht. So habe ich es früher auch immer mit den Sportwagen gehalten, die ich in den Sechzigerjahren fuhr. Du musst das Gefühl haben, du kannst ganz schnell fahren, und dann macht das Langsamfahren Spaß.«
Das war ebenso klug wie schrill. Im Stundentakt pilgerten Jünger zu ihm, überbrachten ihrem Guru als milde Gabe ein paar Gramm Hasch, rauchten mit und lauschten seinen Monologen.
Nur meine Frage, wie es ihm denn wirklich gehe, ob er nicht doch gelegentlich von einem Comeback, vom alten Luxus träume, die hat er rigoros und zornig abgeblockt. Seit die Drogenfahndung bei ihm im Vorjahr nicht nur Haschisch, sondern auch etliche LSD-Trips sichergestellt hatte, musste er, der große Neuss, sich einmal pro Woche auf dem nächsten Polizeirevier melden. Das erfüllte für ihn den Tatbestand der Freiheitsberaubung, das war ein Angriff auf seine Ehre. »Der Kampf ums Haschisch und trotzdem eine seriöse Persönlichkeit bleiben, das möge mir erst einmal einer vormachen. Warum soll ich Ihnen von meiner Illegalität erzählen? Wer illegal lebt, wer sich ständig eine bestimmte Sache besorgen muss, die er für sich als gut empfindet, der wird Ihnen nicht antworten. Denn wenn Sie es wüssten, dann müssten Sie das sofort ändern – und das können Sie nicht.« Da war auf einmal jede Kabarettpointe vergessen. Der vielfach gebrochene, aufrechte Wolfgang Neuss hat, allen Scharaden zum Trotz, sehr genau um seinen tristen Zustand gewusst. Aber seinen Stolz ließ er sich nicht nehmen.
Das waren die Momente, in denen ich mir einmal mehr sicher war, mich für den einzig richtigen Beruf entschieden zu haben. Für einen Journalismus, der sich für die Außenseiter oft mehr interessierte als für die aktuellen Trendsetter des Kulturbetriebs. Die von den Nazis verfemte Schriftstellerin Irmgard Keun, die sich an der Seite von Joseph Roth durchs belgische Exil geschlagen hatte und in den Siebzigerjahren eine späte Renaissance erfuhr, erklärte mir in ihrer winzigen Kölner Bleibe, warum ihr die Freunde am nächsten Wasserbüdchen lieber seien als die meisten ihrer schreibenden Kollegen, die Stars der etablierten Literaturszene.
Ganz am Anfang der Dreißigerjahre war sie als Twen mit ihren rasend komischen Romanen über junge, selbstbewusste und sinnenfrohe Frauen – Gilgi oder Das kunstseidene Mädchen – zum literarischen Shootingstar der späten Weimarer Republik geworden. Nach Kriegsende hat sie den Anschluss an den Zeitgeist der Bundesrepublik verpasst. Die Spuren waren der verarmten, unbeugsamen Frau ins von einer schlechtsitzenden Kunsthaarperücke umrandete Gesicht geschrieben. »Heimat«, hat sie gesagt, »ist dort, wo man gut behandelt wird.« Und dann erzählte sie mit rauchiger Stimme von einem autbiographischen Roman, der nahezu fertig in der Schublade liege. Der Titel schien das Lebensgefühl ihrer letzten Jahre zu spiegeln: »Kein Anschluss unter dieser Nummer«. Als Irmgard Keun 1982 an ihrem Lungenkrebs starb, fand sich im Nachlass keine einzige Manuskriptseite.
Begegnungen wie diese sind haften geblieben, Gespräche, in denen es gelang, meinem Gegenüber das eine oder andere unerwartete Bekenntnis zu entlocken. Das Ablesen vorformulierter Fragen war meine Sache nicht. Ein paar Stichworte auf einem Schmierzettel mussten genügen. Das hat sich oft ausgezahlt. Der Psychiater Horst-Eberhard Richter, linksliberal bis auf die Knochen, erzählte freimütig, dass er nur dank eines glücklichen Zufalls Mitte der Dreißigerjahre nicht zum Mitläufer der Nazis wurde. Dieter Hildebrandt, eigentlich stets fixiert auf die nächste Pointe, ein selbstkontrollierter Medienprofi, berichtete in kaum fassbarer Offenheit und den Tränen nah vom Krebstod seiner Frau Irene und von den Wunden, die dieser Abschied in sein Leben schlug. Wir haben Jahre später dreimal ein ähnlich intensives Gespräch versucht und sind dreimal rabiat gescheitert.
Vor allem aber war da Horst Janssen, der weltweit bekannte, von wildbewegten Mythen umrankte Jahrhundertkünstler, das exzentrische Zeichengenie, das den Abgrund zum Lebenselixier erklärte, der Bürgerschreck, der zugleich der Liebling der Hamburger Schickeria war. Er sei menschenscheu, hieß es. Er verkehre nur mit einem hermetischen Zirkel meist langjähriger Vertrauter. Die Kontaktaufnahme im Jahr 1982 gestaltete sich entsprechend kompliziert. Sein Hamburger Galerist Brockstedt hatte meinen Anruf angekündigt. Aber der Meister nahm über Wochen den Hörer nicht ab. Irgendwann erreichte ich am anderen Ende der Leitung einen Gast, der gerade Zutritt gefunden hatte. »Soll morgen Nachmittag kommen!«, blaffte es aus dem Hintergrund.
Wie befohlen, machte ich mich tags darauf mit meinem Mofa auf nach Blankenese. Auf halber Strecke ein Wolkenbruch. Triefnass erreichte ich das in die Jahre gekommene Haus am Mühlenberger Weg. Die weiße Vorgartenpforte war mit einem Fahrradringschloss verriegelt. Pech gehabt … Dann aber stapfte ein Hüne in Gummistiefeln und schwarzem Cordjackett die Balkontreppe herunter, ein wenig verzottelt, ein Brillenglas zerschlagen. »Bei Grass«, sagte er zur Begrüßung, »dürften Sie in diesem Zustand gewiss nicht aufkreuzen. Mir aber sind Sie gerade deshalb willkommen. Nur, mehr als dreißig Minuten habe ich nicht.«
Schon bald freilich geriet er, sitzend, ins Schwärmen von seinem neuen Buch, über Paranoia, den Zyklus von Pastellen, in die er das ganze Elend der Welt vorwiegend ins eigene Gesicht gezeichnet hat, in die »eigene Visage«, wie er sagte. Über vierzig verletzte Seelenlandschaften, die – zusammen mit den Radierungen zu Hannos Tod – vielleicht zu Janssens eindrücklichsten Arbeiten zählen. Nach rund einer Stunde brach ich wieder auf, mit drei signierten Büchern und einer Zusage für ein ausführliches Fernsehinterview.
Ein paar Tage später rückte ich also mit einem eigens aus Frankfurt angereisten Kamerateam an. Janssen offerierte Champagner. Morgens um zehn. Und das reichlich. Ich fühlte mich gebauchpinselt ob des Empfangs und prostete gerne zurück. Nach zwei Stunden der freundlichen Einvernahme signalisierte ich der Heimatredaktion beim Hessischen Rundfunk, das Interview sei großartig verlaufen. Tags darauf, im Schneideraum, kam das böse Erwachen: Da saßen sich zwei lallende Männer gegenüber. Anders gesagt: Das Gespräch grenzte ans Kontextfreie und war unsendbar.
Ich saß tief in der Tinte. Als ich Janssen, dessen aufbrausendes Wesen gefürchtet war, am Telefon vorsichtig von dem Desaster in Kenntnis zu setzen versuchte, war meine Überraschung groß. »Dann machen wir’s eben noch einmal!«
Wenige Tage später schon folgte der zweite Versuch. Und der glückte. Jetzt beschrieb er nüchtern und präzise, wie er sich die über vierzig Paranoia-Zeichnungen binnen weniger Wochen in nahezu vollständiger Einsamkeit abgerungen habe. Nur Freundin Viola durfte ihm jeden Tag Brötchen, ein wenig Aufstrich und eine Flasche Milch für sich und die Katze, seine Lydia, an den Zaun baumeln. Mit wahrer Wonne zelebrierte er das Selbstbild vom barocken, gern trunkenen Eremiten, vom egomanen Vollblutkünstler, der uns sein betörend unaufgeräumtes Domizil als Grundvoraussetzung seines Schaffens präsentierte: »Um mich herum ist das reine Chaos, in mir ist die reine Harmonie.« Das Credo gefiel mir.
Wir haben uns in den folgenden Jahren immer wieder gesehen. Zum Interview, oft auch privat. Er war wohl, so fremd mir Superlative sind, einer der kreativsten, produktivsten und facettenreichsten Menschen, die mir je begegnet sind. Ob mit Bunt- oder Bleistift, mit Pinsel oder Radiernadel: Janssen war eine Liga für sich. Abertausende Gesichter, Schädel und Skelette, Stilleben, Blumen, Landschaften, Bildnisse seiner Weggefährten und der vielen Liebsten vor allem, zärtlich und dann wieder von derber Wollust. Holzschnitte, Lithographien, Tagebücher, autobiographische Konfessionen und wortmächtige Traktate dazu. Selbst das Grundgesetz hat er mit anarchischem Spott kommentiert. Dieser von mir bekennend bewunderte Koloss kannte keine Grenzen der Genres. Die gängigen Größen des Kunstbetriebs von Beuys bis Warhol hat er verlacht. Und ebenso das Gros seiner Mitmenschen, all der Normalsterblichen, die sich anmaßten, einem Genie wie ihm mit bürokratischen Auflagen zu Leibe zu rücken. Das Bezirksamt Altona etwa, das ihn wegen seines nicht eben in Schrebermanier gepflegten Gartens mit einem Bußgeld belegen wollte.
Janssen, der »Exzessmensch«, wie ihn die taz einmal nannte, hat bei der Behörde im Gegenzug acht Hunde angemeldet. Für sie wolle er als braver Bürger nun Steuern entrichten. Am besten in bar. Die Reaktion ließ erwartungsgemäß nicht lange auf sich warten. Man müsse die Exemplare vor Ort in Augenschein nehmen. Acht Hunde auf so engem Terrain, das sei vermutlich unzulässig. Drei Beamte rückten an. Wo die Tiere denn seien? Der Künstler, der in seinem Sekretär stets große Mengen an DM-Scheinen (und viele goldene Krugerrand-Münzen) verwahrte, sah die Chance gekommen, das bundesdeutsche Verwaltungswesen aus den Angeln zu heben. Als vermögender Künstler, der nun einmal nicht zuletzt von der Phantasie, der Imagination lebe, bestehe er auf dem Recht, Hundesteuer auch für erdachte Vierbeiner abzuführen. Gerne auch sofort und in bar. Das rundum überforderte Kommando rauschte ab. Das Bezirksamt hat sich nie wieder beim widerständigen Zeichner gerührt.
Der Bürger Janssen war ein grandioser, subversiver Charakter. Unsere letzte Begegnung allerdings hatte mit verwegenen Maskeraden nichts mehr zu tun. Im Mai 1990 war Janssen mit einer Wanne Säure, die er für einen Satz neuer Radierungen brauchte, vom morschen Balkon seines Hauses gestürzt. Weit schlimmer als der Beckenbruch und die Prellungen waren die beidseitigen Verätzungen der Hornhäute. Über Tage war unklar, ob der Zeichner, dessen Profession ohne Augenlicht erloschen wäre, je wieder würde sehen können. Bei einem Treffen wenige Monate später hat er mir lange von seinen Ängsten in diesen Stunden erzählt. Ich werde das niemals vergessen: »Weißt du, Tilman, für mich war immer klar, dass ich, sollte ich je blind werden, nicht mehr leben will. Aber in dem Moment, als ich dann am Boden lag und nichts mehr sehen konnte, war ich mir auf einmal nicht mehr so sicher.«
Ein offenkundig begnadeter Arzt hat ihm die Augen wieder zusammengelasert. Über das Glücksgefühl, wieder sehen, wieder arbeiten zu können, über den folgenden Schub von Zeichnungen, die so bunt waren wie nie zuvor, haben wir 1991 noch einmal in einem ausführlichen Beitrag für ttt gesprochen, das ARD-Kulturmagazin, das sich damals bisweilen noch Fünfzehn-Minuten-Beiträge gestattete.
Mit fünfundsechzig Jahren ist Horst Janssen, der gerne wie der von ihm so verehrte japanische Holzschneider Hokusai achtundachtzig geworden wäre, am 31. August 1995 an den Folgen dreier Schlaganfälle gestorben. Er trat ab nach einem prallen und, was die selbstzerstörerische Ausbeutung der eigenen Kräfte angeht, konsequent geführten Leben. Diesem Entwurf kann ich auch postum viel abgewinnen, insbesondere seit der Diabetes meinem Dasein die Grenzen aufzeigt. Die Krankheit hat die Schwerpunkte meiner Arbeit verlagert.
Mag sein, es war nur ein unbewusster Reflex, aber die Betreiber eines US-amerikanischen Totenhauses in Michigans Kleinstadt Clinton Township wollte ich unbedingt kennenlernen. Für eine aufwendige ARD-Produktion, ein Pilotprojekt, galt es 2007, die Zukunft und Abgründe der Kryokonservierung, die Einfrierbarkeit von Zellen, ja ganzen Organen zu ergründen. Also verabredeten wir uns im noblen Pavillon des Cryonics Institute, der Ruhestätte von über achtzig Leichen, die gemäß testamentarischer Verfügung in eisigen Stickstofftanks lagern und auf Wiedererweckung hoffen, sollten ihre Gebrechen eines Tages heilbar sein. Das Blut der Patienten, wie die Deponierten im verschworenen Kreis der Eisgläubigen heißen, wurde kurz nach Einlieferung durch ein Frostschutzmittel ersetzt.
Der Wunsch nach Unsterblichkeit treibt die kuriosesten Blüten, wie ich im Gespräch mit dem Nestor der Bewegung erfuhr, der – welch vergnügliche Aussicht! – sowohl seine Frau als auch seine Ex-Frau in freudiger Erwartung auf Eis legen ließ. Für fünfstellige Dollarbeträge werden hier sogar Katzen, Papageien und Hamster fürs ewige Leben präpariert, auch wenn sich die Experten einig sind, dass die propagierte Auferstehung so unwahrscheinlich ist wie die Aussicht, aus einem Hamburger wieder eine lebendige Kuh zu formen.
Ich bin von einer Expedition zur nächsten gehastet und vergrub mich für ein paar Tage, Wochen oder für maximal wenige Monate in immer neuen Geschichten. Dieses Glück, das vermutlich zugleich mein Kreuz ist, währt nun bald ein halbes Jahrhundert. Distanz zu meiner Arbeit – das war Stärke und Schwäche zugleich – empfand ich nur selten. Ich habe mich den reizüberflutenden Herausforderungen meist begeistert gestellt. Je weiter die Reise ging, desto besser. Noch steckte ich die Strapazen scheinbar spielend weg.
Im Sommer 2009 aber hat das diabetische Biest in mir zum ersten Mal mit geballter Wucht zugeschlagen. Von einem Tag auf den anderen hatte ich brennende Schmerzen im Kreuz, die bis übers Gesäß hinaus strahlten. Jeder Schritt tat weh. Die Konsultation eines Orthopäden blieb ohne Befund. Erst ein Neurologe aus Frankfurt-Rödelheim fand die Ursache heraus. Das diagnostische Verfahren, die sogenannte Nervenleitgeschwindigkeitmessung, war eine Tortur. In Intervallen wurden mir zunehmend heftigere Stromstöße gesetzt, um die Kontraktionsfähigkeit meiner Beinmuskeln zu testen. Ich zuckte und schrie. Den angeklebten Elektroden ausgeliefert, fühlte ich mich, auch wenn’s an Hysterie grenzte, wie ein Delinquent auf dem elektrischen Stuhl.
Als der in bester Absicht handelnde Arzt, zugleich Psychiater, von mir abließ, war die Diagnose auf einem Papierstreifen abzulesen: Polyneuropathie. Meine Nervenbahnen funktionierten nicht mehr so, wie sie sollten. Und das kann schmerzhaft sein. Um die akuten Beschwerden zu lindern, bekam ich Cortison gespritzt. Doch die Injektion wirkte immer nur ein paar Tage. Für die kommende Woche aber stand eine Reise ans Ende der Welt auf dem Plan. In Feuerland eröffnete, kuratiert vom Direktor des Goethe-Instituts in Rio de Janeiro, die zweite Biennale in Ushuaia, die südlichste Kunstschau auf dem Planeten. Unser von langer Hand geplanter Bericht wollte sich langsam an den entlegenen Ort herantasten, entlang der grandiosen Gletscherlandschaft des Perito-Moreno. Mit ausreichend Cortisonampullen proviantiert, machten mein Kameramann und ich uns auf den weiten Weg. Irgendein Arzt, eine Krankenhausschwester würde sich, wenn es nottut, auf der Tour schon finden. Die Faszinationskraft der Weite Patagoniens war einfach zu groß, obwohl – oder gerade weil – ich die Pampa am Ende der Welt bereits von vorherigen Unternehmungen kannte.
Allein das dumpfe Krachen der kalbenden Gletscherfront im kalten, klaren Licht des argentinischen Winters hat die Beschwernisse der nicht eben gesundheitszuträglichen Weltreise wettgemacht. Ich biss die Zähne zusammen und hoffte, in den acht Tagen mit zwei Injektionen hinzukommen. Der Biennale-Parcours in Ushuaia stand unter dem Motto »Kultur und Klimawandel« und war durchaus einprägsam: Das alte Gefängnis am Hafen mutierte zum Museum engagierter Kunst. Verwegene, mit Feuerlöschern bewaffnete Gestalten simulierten vor dem Hangar des ausgedienten Flughafens den nahen Weltuntergang. In einem Wäldchen am Rande der Stadt war die überdimensionale Skulptur eines verendeten Walfischs versteckt: der letzte Gigant, verendet.
Nur, das quälende Brennen und Stechen im Kreuz und in den Beinen ließ sich, ständig auf Achse von einem Ausstellungsort zum anderen, nicht länger betäuben. Ich flog einen Tag früher als geplant zurück. In Frankfurt angekommen – wir hatten eine Außenposition auf dem Flugfeld –, habe ich es dann kaum mehr die Gangway hinuntergeschafft und begab mich schnurstracks ins Krankenhaus. Neben einer Schmerztherapie verordnete mein damaliger Diabetologe am Universitätsklinikum eine Maßnahme, vor der ich mich so lange gedrückt hatte, aber Tabletten alleine reichten nicht mehr: Ab sofort war ich insulinpflichtig. Die Hemmschwelle, sich selber zu stechen, war zunächst hoch – und die Vorstellung, fortan mit Spritzbesteck und Nadeln zu reisen, ein Greuel. In jedem Hotelzimmerpapierkorb musste ich nun Hinterlassenschaften entsorgen, die mich als Diabetiker identifizierten. Privatheit nimmt sich anders aus.
In Zürich ist mir dabei während der ersten Wochen ein folgenreicher Fauxpas unterlaufen. Grob fahrlässig vergaß ich, den Stechschutz über die gebrauchte Nadel zu ziehen. Das Zimmermädchen stupfte sich in den Finger. Höflich, aber bestimmt baten die Schweizer um einen HIV-Test. Der signalisierte die erwartete Entwarnung, aber die arme Frau hat vermutlich Tage in Panik verbracht. Seitdem nutze ich nur noch Kanülen mit automatischem Sicherheitsverschluss.
Die Messwerte sanken dank des Insulins fürs erste spürbar. Ein Physiotherapeut arbeitete mit mir erfolgreich am Wiederaufbau meiner Muskulatur. Ich war, wie es schien, noch einmal davongekommen. Große Erleichterung, der, wie gehabt, bald Übermut folgte. Ich ließ den Karren wieder schleifen. Der alte Schlendrian kehrte zurück.
»Sie sind indolent«, hat mir mein analytisch geschulter Neurologe einmal gesagt, »Sie wollen die Einschläge einfach nicht wahrhaben.« Vermutlich hat er recht. Mein inneres Frühwarnsystem ist außer Betrieb. Gedanken an Vorbeugung und Vorsorge wurden, in puncto Gesundheit ebenso wie bei der ökonomischen Altersabsicherung, konsequent beiseite gedrängt. Drei ausgedehnte Kurklinikaufenthalte verfehlten jegliche Wirkung. Die Ernährungsberaterinnen haben Engelsgeduld mit mir bewiesen, und ich demonstrierte Einsicht und lernte, dass Laugenwecken dem Zuckerspiegel nicht guttun, für harte Eier hingegen keine einzige Broteinheit anzurechnen ist. In Bad Mergentheim und im Odenwald erfuhr ich, dass Reduktionskost durchaus schmackhaft sein kann. Die Tage von Paracelsus, der seine diabetischen Patienten im sechzehnten Jahrhundert mit Hungerdiäten quälte, sind graue Geschichte. Aber die Zeitbombe tickt weiter. In der Erinnerung aber fühle ich mich üppig beschenkt von all den Menschen, die mir vertrauten und aus ihrem Leben erzählten, auch wenn es, wie das meine, fundamental aus dem Ruder gelaufen war.
Die Bilder meiner ersten Reise vom Herbst 2011 in die Todesregion Fukushima haben sich mir ins Gedächtnis gebrannt: der weiße Strahlenanzug des buddhistischen Mönchs Bansho Miura, der die Urnen seiner Familie birgt, die auf verstrahltem Terrain lagern, um sie in unverseuchte Erde umzubetten. »Hier werden sie keine Ruhe mehr finden.« Seiko Takahashi, die Kindergärtnerin, die ein Interview weinend unterbrechen muss. Sie kann es einfach nicht fassen, was da ihren Schützlingen angetan wird. »Und sie machen weiter!«
Bis ins kleine, zwangsevakuierte Yamakiya haben wir, mein fabelhafter, vielfach bewährter Kameramann Jim Günther und ich, uns vorgewagt, keine vierzig Kilometer vom havarierten Reaktor entfernt. Die Zeit hat augenscheinlich nicht mehr gereicht, um die Shops, die Tankstelle, die Gewächshäuser winterfest zu machen. Wozu auch? Vor der Grundschule: verwitterte Schaukeln, rostende Kinderfahrräder. Ihre Besitzer haben den Ort, wie es scheint, in großer Eile verlassen, aufgeschreckt vom »Fukushima-Schock«. Das war auch der Titel unserer Reportage. Auf dem Bolzplatz ticken automatisierte Geigerzähler. So könnte die Apokalypse ausschauen.
Bewohner, die keine Verwandtschaft, keine Freunde in unverseuchten Städten hatten, wurden in eine eilends errichtete Containersiedlung außerhalb der Strahlenzone verfrachtet. Auch die alte und sehr resolute Kimiko Abe, die sich nur tief gebückt bewegen konnte, zählte zu den Vertriebenen. Einst hat sie Gemüse und Tabak fürs halbe Dorf angebaut und Seidenraupen gezüchtet. Jetzt hat sie keinen Garten mehr, lebt statt in der Natur auf einem umfunktionierten Fußballfeld und hockt in ihrer Stahlbox mit Miniküche, WC, Bad. Ihr Sohn schläft in der winzigen Nebenkammer des Containers. Die Vierundachtzigjährige sagt trotzig: »Oh, wäre der Reaktor doch in Tokio hochgegangen. Dann würde sich etwas ändern. Denn dort sitzt das große Geld. So aber geschieht nichts.«
Sie hat sich gefreut, ihrem Unmut für ein paar Stunden Luft machen zu können. Beim Abschied winkt sie uns lang noch hinterher.
Wenige Wochen nach meiner Rückkehr aus Japan meldete sich mein Diabetes dramatisch wie nie zuvor zurück. Heiligabend 2011 ließen wir, Toni und ich, es uns richtig gut gehen. Unser kleines Frankfurter Lieblingsrestaurant hatte geöffnet. Der Hirsch mit Rotkohl und Klößen war hinreißend. Der Rotwein nicht minder. Nur die rechte Wade tat schon seit dem Nachmittag weh. Als wir aufbrechen wollten, konnte ich vor Schmerzen nicht mehr auftreten. Wir mussten, obwohl es bis zu meinem Domizil nur ein paar Meter sind, ein Taxi rufen. In der Nacht wird das Bein dicker und dicker. Doktor Google tippt auf Thrombose. Auch Blutverklumpung gehört zu den Symptomen des Zuckers. Also ab zum Notdienst ins Krankenhaus. Die spritzen Clexane, einen Gerinnungshemmer. Wenn es nicht besser werde, solle ich mich trotz der Feiertage umgehend wieder vorstellen.
Es wird schlimmer. Am zweiten Weihnachtstag fahre ich ins Krankenhaus zurück. Dort behalten sie mich gleich. Ich werde in die CT-Röhre geschoben. Ein Blutpfropfen ist nach einer tiefen Beinvenenthrombose gewandert. Ich habe eine Lungenembolie. Der Ernst der Lage wird mir erst bewusst, als ich darum bitte, unter die Dusche gehen zu dürfen. Die diensthabende Oberärztin scheint fassungslos und fährt mich an: »Ist Ihnen nicht bewusst, dass Sie in akuter Lebensgefahr sind?«
Die Mortalitätsrate in einem Fall wie dem meinen liegt bei zehn Prozent. Die nächsten Tage seien entscheidend. Im Bett setze ich mich an meinen mobilen Computer und schreibe meiner Mutter eine lange Mail. Sie möge bitte nicht gar zu traurig sein, wenn mir etwas zustieße. Ich hätte – auch wenn ich damals gerade einmal sechsundfünfzig Jahre alt war – ein unfassbar intensives Leben gelebt. Mit dem Schicksal hadern würde ich nicht. Nur um Toni, die damals auch in ökonomischer Hinsicht gelegentlich meine Unterstützung brauchte, möge sie sich bitte, wenn irgend möglich, kümmern. Der Schlag, den ihr mein Ableben zusetzen würde, wäre schon grausam genug.
So weit ist es dann glücklicherweise doch nicht gekommen. Nach zehn Tagen wurde ich in die Ambulanz der Belegärztin, einer Venenkoryphäe von Rang, überstellt. Schmerzfrei gehen mit meiner noch immer dick geschwollenen Wade konnte ich nicht. Im Dreitagesabstand erhielt ich in der Frankfurter Praxis neue Zinkleimverbände. Messungen per Ultraschall ergaben, dass zwei zentrale Venen wohl für immer verstopft sein, sich aber erfahrungsgemäß Nebenwege bahnen würden. Weil überdies noch recht erhebliche Herzrhythmusstörungen dazukamen, bekam ich das damals brandneu zugelassene Rivaroxaban in Form von hochdosiertem Xarelto verschrieben. Ich werde auf die kleinen tiefroten Blutverdünnungspillen bis zum Ende meines Lebens angewiesen sein. Da ist es mir zum ersten Mal gedämmert: Ich bin ein ziemlich kranker Mann.
Nur, was sollte ich nun mit meinem Material aus Fukushima machen, was mit den ergänzenden, für Mitte Januar fix vereinbarten Terminen in Hamburg, Berlin und Potsdam? Insbesondere die Einvernahme eines nachdenklichen Verfechters der Energiewende, des einstigen CDU-Bundesumweltministers Klaus Töpfer, schien unverzichtbar für das Projekt. Bis zum Sendetermin in der ARD, kurz vor dem ersten Jahrestag der Katastrophe, blieben nach der Krankenhausentlassung nicht einmal sechs Wochen. Was tun? Ein neuer Sendeplatz im Ersten war auf absehbare Zeit nicht zu beschaffen. Ich entschied mich für die Wahnsinnsvariante.
Zwischen den Nachkontrollen und Verbandswechseln in Frankfurt schleppte ich mich zu den Interviews, auch wenn ich den Fußweg zum Bahnsteig kaum schaffte. Anstatt mich krankschreiben zu lassen, organisierte ich eine Liege im Schneideraum und brachte meinen Film zu Ende. Die Kollegen, mit denen ich über den Kraftakt sprach, haben mit Fug und Recht entgeistert die Köpfe geschüttelt. Auch wenn das Produkt durchaus vorzeigbar war: Im Rückblick erschreckt mich die Rücksichtslosigkeit, mit der ich damals wegen eines Fernsehstücks, von dem ich nicht lassen konnte, mit mir umgegangen bin. Die Verleugnung von Krankheit und Schwäche ist keine Heldentat, sondern ein Armutszeugnis, ein Mangel an Demut.
Ich machte dennoch in gewohntem Tempo weiter. Nachhaltige Reue? Fehlanzeige.
Vermutlich wäre ich sonst 2012 auch nie einer Frau wie der Archäologin Tamara Grübel begegnet. Sie ist blind, muss das Sprechen mühsam wieder lernen. Auf dem Rückweg nach Deutschland von einer Grabung in der Bourgogne ist sie acht Jahre vorher schwer verunglückt. Der Schädel zertrümmert. Die Sanitäter am Unfallort räumen ihr keine Überlebenschance ein. Sie fällt ins Koma, schwebt zwischen Leben und Tod. Viel Hoffnung haben die Ärzte nicht. Ihr Gehirn hat irreversible Schäden davongetragen. Ihre Schwester, die sie damals am Krankenbett in Nancy besucht hat, bekennt: »Ich dachte, sie soll jetzt sterben und es nur dann schaffen, wenn es noch ein lebenswertes Leben wird.«
Tamara kämpft sich zurück. Ihren Kampf habe ich für eine knapp einstündige Wissenschaftsdokumentation über neue Entwicklungen in der Komaforschung beschrieben. Ihre Eltern, ihr Arzt, haben sie niemals aufgegeben. Sie beginnt wieder zu reiten, wieder Cello zu spielen. Sie quält sich mit der Brailleschrift ab. Dank einer Blindentastatur und eines Vorleseprogramms kann sie sogar übers Netz kommunizieren. Es gelingt ihr am Ende, in einer auf ihre Möglichkeiten zugeschnittenen WG ein weitgehend selbstbestimmtes Leben zu führen.
Als ich Tamara auf Vermittlung ihres Arztes und im Einvernehmen mit ihren Eltern besuche, kann sich die Fünfunddreißigjährige an ihr Wachkoma erinnern. »Es war ein bisschen wie Schlafen. Es sind Leute gekommen, die versucht haben, mit mir zu sprechen und mich zu erreichen.« Sie hört ihre Besucher, aber sie kann ihnen nicht antworten. Ein Albtraum. Und ich hadere mit meinem Diabetes …
Gemeinsam sind wir für die knapp einstündige Dokumentation noch einmal an ihre einstige Wirkungsstätte, zu den Keltengräbern in Frankreich gereist. Für sie war die »sentimental journey« im TGV eine maßlose Strapaze – und glückliche Rückerinnerung zugleich. Als Tamara sich am Morgen nach unserer Ankunft mit ihrem Blindenstock, von den Eltern gestützt, über den unebenen Acker am Mont Lassois tastet, werden die verloren geglaubten Erinnerungen noch einmal lebendig. »Ich kann nichts sehen. Aber die Bilder kommen wieder. Und es gibt Vorfreude auf die Zukunft.« Sie träumt davon, eines Tages doch noch zu promovieren. – Das sind für mich die Momente, die bleiben und meine eigene Krankheit auf einmal nebensächlich erscheinen lassen.
Mein ganz persönlicher Fukushima-Schock, die Tage auf Leben und Tod in der Klinik, verfolgte mich dennoch weiter. Zwei Jahre danach bin ich – diesmal im Rahmen einer arte-Produktion über weltweite Geisterstädte – noch einmal zurückgekehrt nach Yamakiya. Der Ort ist noch immer verwaist, die Strahlenbelastung deutlich zu hoch. Mannschaften in Schutzanzügen tragen kontaminierte Erdschichten ab. Was mag aus der zornigen alten Frau Abe in ihrem Containerdorf geworden sein?
Sie ist vor knapp einem Jahr gestorben. »Sie hatte keine Kraft mehr. Sie hat nicht mehr gewollt«, sagt ihr Sohn Isao. Er nimmt uns, nicht ganz legal, mit zum Friedhof, auf dem die Mutter, mitten in der Strahlenzone, unter einem kargen schwarzen Stein begraben liegt. Bis zu Isaos verwaistem Elternhaus ist es nicht weit. Zweimal im Monat darf er auf Antrag für ein paar Stunden zurück in die Heimat.
Er stapft durch den verdorrten Gemüsegarten. Eine letzte Hinterlassenschaft der Mutter. Der Briefkasten vor der Haustür ist leer. Hier braucht man keine Postboten mehr. Isao Abe, der mit seinen fünfzig Jahren bei einem Security-Unternehmen neue Arbeit fand, das in menschenverlassenen Arealen Patrouille fährt, schließt auf. Die Pantoffeln im Flur haben Staub angesetzt, die Standuhr hat aufgehört zu ticken. Die vom Vater angelegte Sammlung von kleinen Buddhastatuen hat überdauert. Der Sohn mit den traurigen Augen gibt sich keinen Illusionen hin: »Vermutlich werde ich nie wieder zurückkehren können.« Über die tote Mutter sagt er: »Mehr als fünfzig Jahre hat sie daheim in Frieden gelebt, doch das war mit dem Tag ihrer Evakuierung zu Ende.« Die alte Dame hat einen hohen Preis für den GAU in Fukushima bezahlt. Rund zehntausend Kilometer von Deutschland entfernt habe ich gespürt, was der Verlust von Heimat selbst beim Sterben bedeutet.
Es war nicht die erste Erfahrung, die ich in meinem Beruf auf diesem Feld sammelte. Im Jahr 2010 hatte ich Margot Käßmanns so erregt diskutiertes Neujahrskanzelwort »Nichts ist gut in Afghanistan« zum Anlass genommen, um die Aktualität des fünften Gebots kontrovers zu beleuchten und zu fragen, wie ernst es die Kirchen denn selbst mit dem biblischen Tötungsverbot nehmen. Walter Wakenhut, der katholische Militärgeneralvikar, verstieg sich zu der These, dass der Weg zum Gottesstaat nun einmal beschwerlich sei. »Wenn man einen Berg raufgeht, bedarf das auch immer einer gehörigen Anstrengung und auch des kräftigen Schwitzens, um das hehre Ziel erreichen zu können.« Meinen Einwand, dass es doch feine Unterschiede zwischen dem Transpirieren und dem Töten gäbe, ließ er nicht recht gelten. »Der Gottesstaat, die ideale Ordnung, bedarf eben auch des Einsatzes und der Opfer vieler. Und als Ultima Ratio, als allerletzte Möglichkeit, kann es auch notwendig sein, dass eben getötet wird.« Der Afghanistan-Einsatz, verklärt als Mission Gottes.
Ich wollte mich vor Ort, am Hindukusch umhören, flog nach Kabul und von dort im Truppentransporter weiter nach Kundus. Dort wurde ich, wie es bei deutschen Auslandseinsätzen Brauch ist, gut und reichlich verpflegt. Die Unterbringung in einem sandsackgeschützten Zelt mit Feldbett war höchst akzeptabel. Aber von Reporterfreiheit keine Spur. Ich stand unter Dauerbeobachtung. Die vom Pressemajor fürs Interview ausgewählten Rekruten verbreiteten vorgestanzte Antworten, faselten von einer schweren Mission und priesen die gute Kameradschaft. Fragen nach möglichen Gewissenskonflikten wurden augenblicklich unterbunden.
Doch am zweiten Abend nach meiner Ankunft fand auf dem Appellplatz die Totenfeier für drei von Talibankämpfern erschossene Bundeswehrsoldaten statt. Der evangelische Militärseelsorger vor Ort, der sich ungehindert um Kopf und Kragen reden durfte, belehrte mich, dass es möglicherweise wichtigere Gebote gebe. Bei seiner Predigt verbreitete er blumiges Pathos und pries die Toten als »Krieger des Lichts«. Genutzt hat es den drei armen in der Fremde gefallenen Teufeln wenig.
Erst in der Rückschau ist mir aufgefallen, wie viele meiner Erkundungen seit der Sylter Diabetesdiagnose um Finales kreisen: Die Reportage über die Exekution des afroamerikanischen Kinderbuchautors im kalifornischen Todestrakt in St. Quentin. Mein Vortrag bei einer Tagung der evangelischen Akademie Tutzing über den assistierten Suizid. Mein letztes Gespräch mit der tapferen Autorin Silvia Bovenschen, die wusste, dass sie ihren Kampf gegen die Multiple Sklerose verloren hatte.
Zunehmend fixierte ich mich auf ein Thema, das ich gleichzeitig mit System aus meinem Lebensalltag verbannte. Dahinter steckte kein Plan. Aber Methode hat’s eben doch. Ganz geheuer ist mir das nicht.
Immerhin: in Japan hat die Geschichte mit dem Fukushima-Schock, soweit möglich, eine glückliche Wendung genommen. In die einstige Geisterstadt Yamakiya jedenfalls ist Ende 2017 das Leben zurückgekehrt. Die Messungen der Geigerzähler haben sich im zulässigen Normbereich eingepegelt, die Schaufenster sind wieder gefüllt, Schüler lärmen auf dem Pausenhof. Vielleicht hätte Frau Abe sogar irgendwann vor ihrem Haus wieder Tabak anbauen können.
Aber ob die Heimat sich noch so anfühlt wie sechs Jahre zuvor? Welch ein Stoff für eine dritte Reportage! Ich ertappe mich beim Zukunftsträumen. Wann endlich geht die Reise los?

04
Ursachenforschung: Das Problem bin ich

Der Schriftsteller Max Frisch liebte es, seine Leser mit einer Reihe von hintergründigen Fragebögen ins Gebet zu nehmen. Die Themen waren weitgespannt und reichten von der Liebe bis zum Tod, vom Geld bis zur Erhaltung des Menschengeschlechts. Zum Klassiker aber reiften die fünfundzwanzig Fragen über das Wesen der Freundschaft. Es fing ganz harmlos an: »Halten Sie sich für einen guten Freund?« Bald schon wurde es knifflig: »Halten Sie sich einen Hund als Freund?« Oder: »Was fürchten Sie mehr: das Urteil von einem Freund oder das Urteil von Feinden?« Die heikelste Frage findet sich am Ende: »Sind Sie sich selber ein Freund?« Ich war es nicht. Ich tue mir nicht gut und bin mir gelegentlich selber suspekt. Just dies könnte der Schlüssel sein, der mir den Weg zu einem anderen, rücksichtsvolleren Umgang mit dem Diabetes verschlossen hat.
Der Versuch, das folgenschwere Übermaß an Zucker in meinem Körper vor allem mit einer ungesunden Passion für den Beruf, mit den Verführungen des Journalismus zu erklären, enthält gewiss viel Wahres, greift aber zu kurz. Es gibt noch andere Ursachen meiner Malaise. Und die reichen, vom rein Medizinischen abgesehen, weit, weit zurück. Ich erinnere mich an das Foto genau: Ein Kleinkind, mein fast elf Jahre jüngerer Bruder Christoph, sitzt, es dürfte im Sommer 1966 gewesen sein, vor dem aufklappbaren Schminktisch im Schlafzimmer meiner Mutter. Das gemeinsame Ehebett hatten die Eltern seit dem Umzug ins neue Haus im Jahr davor einvernehmlich ausgemustert, was der Zuneigung keinen Abbruch tat. Christoph schaut in den Spiegel, berauscht sich am eigenen Antlitz, strahlt über beide Backen und hat sich augenscheinlich richtig lieb. Und so ist es geblieben. Auch er ist nun schon deutlich über fünfzig, arbeitet als Producer fürs Privatfernsehen, trägt, als sei’s eine Konfession, hautenge Skinny Jeans, cremt, begelt und besprayt sich mit Hingabe. Ein Sonnyboy und überzeugter Jogger. Obendrein ein liebenswerter Hypochonder. Healthcare ist sein Steckenpferd. Der Diabetes wird ihn verschonen.
Meine Vita hat holpriger begonnen. Mit fünf eine Hirnhautentzündung als Folge einer Mumpserkrankung. Über Tage hohes Fieber. Eher auf Verdacht hin wurden Antibiotika gespritzt. Sie haben vermutlich das Schlimmste verhindert. Aber im Nachgang stotterte ich mich über viele Jahre durchs Leben. Kaum ein Satz, den ich gerade herausbekommen hätte. Ich selber fand mich ziemlich lächerlich mit meinen Sprechblockaden. Mit autogenem Training in der Obhut des Tübinger Kinder- und Jugendpsychiaters Reinhart Lempp – einer Koryphäe seines Fachs, dessen schwarzlederumhüllte Armprothese tiefen Eindruck machte – habe ich das Handicap weitestgehend überwunden. Nur wenn ich ausgelaugt und müde bin, holt mich die Vergangenheit gelegentlich wieder ein.
Kann einer, der sich früh schon als Außenseiter erlebt hat, narzisstische Gefühle oder zumindest ein gesundes Maß an Selbstbejahung entwickeln? Ich konnte es eher nicht und besann mich schon als Absolvent des humanistischen Gymnasiums, in das mich meine Eltern mit sanftem Zwang gesteckt hatten, auf andere Tugenden. Ich kultivierte das »Nein«. Ich war unbequem bis auf die Knochen, weigerte mich, zu Unterrichtsbeginn die altbackene Lateinlehrerin mit dem eingeforderten »Salve Magistra« zu grüßen, blieb im Musikzimmer beim Absingen der Nationalhymne stumm, organisierte Schülerstreiks, nahm lieber an der von aufmüpfigen Studenten organisierten Sexualkunde AG denn am Zeichenunterricht teil. Als Klassensprecher, der ich zu meiner eigenen Verwunderung über Jahre war, baute ich mich vor dem Allerheiligsten der Anstalt, vor dem Lehrerzimmer auf, um mich für Kameraden zu verwenden, deren Versetzung gefährdet war.
Ansonsten hielt ich mich an Günter Eichs Aufruf, nicht das Öl, sondern Sand im Getriebe der Welt zu sein, verbaselte meine Schulhefte aus Überzeugung, widmete mich den Hausaufgaben eher dilatorisch, versemmelte so manche Klassenarbeit und ließ den Chemielehrer wissen, dass es in Zeiten des Vietnamkriegs wahrlich wichtigere Dinge gebe als das Periodensystem. Die Folge waren regelmäßige Einbestellungen zum Rektoratsarrest. Der Eintrag des entnervten Biologie-Studienrats ins Klassenbuch traf den Nagel auf den Kopf: »Jens ist aufsässig und renitent.« Das kam einem Ritterschlag gleich. Der Pauker hatte meine Wesenheit erkannt: Anpassung, Unterordnung war mir ein Greuel.
Und dabei ist es geblieben. Mir wird keiner Grenzen setzen, die ich nicht akzeptieren kann. Das galt für Professor Unrats Erben am Tübinger Uhland-Gymnasium, das gilt für Fernsehredakteure im Schneideraum, wenn deren Bedenken nicht überzeugen, sondern eher den Vorgaben politischer Opportunität gehorchen. Und das gilt letztlich auch – hier schließt sich der Kreis – für die tyrannischen Anwandlungen des Diabetes. Ich habe mir mit meiner zur Lebensleitlinie erhobenen Widerständigkeit hier wie dort oft ins eigene Fleisch geschnitten. Und doch bereue ich wenig.
Gerade Menschen, die es gut mit mir meinen, stöhnen in Regelmäßigkeit auf: »Muss denn auch dieser Clinch schon wieder sein?« Ich konzediere: Ein Übermaß an Duldsamkeit und Diplomatie hat mich niemals ausgezeichnet. Das begann schon daheim im Elternhaus. Das freimütige Gespräch bei Tisch bereitete mir höchstes Vergnügen. Da wehte der freie Geist. Ich wusste das Privileg früh zu schätzen, wäre da nur nicht der aus meiner damaligen Sicht unverständliche Rückfall in Konventionen überkommener Kleinbürgerlichkeit gewesen: Der mit silbernem Lametta behangene Tannenbaum im Wohnzimmer meines Elternhauses löste jedenfalls Unbehagen aus, obwohl die an den Zweigen angebaumelten Schokoladenkringel köstlich schmeckten. Aber wenn meine Mutter, alle Jahre wieder, die zerkratzte Schallplatte des Weihnachtsoratoriums auflegte und mein Vater mit ungewohnter Sentimentalität in die roten Kerzen schaute, begannen sich mir – warum eigentlich? – die Nackenhaare zu sträuben. Die stets nach der Bescherung geöffnete Konservendose mit Bassermanns extrafeinem Erbsen- und Wurzelgemüse besserte die Stimmung nicht.
Meine Eltern haben mir zu einer rundum behüteten, zugleich von Liberalität geprägten Kindheit und Jugend verholfen. Mit welcher Langmut hat meine Mutter mit mir, seit ich sechs war, die jedes Jahr erweiterte elektrische Märklin-Modelleisenbahn auf eine riesige Sperrholzplatte montiert, Weichen verschraubt und Faller-Häuschen verleimt! An Zuwendung hat es mir nicht gefehlt. Familie in traditionellem Sinn aber, als weitverzweigter, identitätsstiftender Verbund hat nie eine nennenswerte Rolle gespielt. Die Blase von Onkeln, Tanten, Paten, Großeltern, Neffen und Nichten war – zumal aus Sicht meines Vaters, der keinen Hehl daraus machte, nun einmal kein »Familienideologe« zu sein – allenfalls eine verwandtschaftsbedingte Zufallsgemeinschaft. Man ging seiner Wege, traf sich bei Gelegenheit – oder ließ es bleiben.
Als Zumutung erschien auch mir das Insistieren meiner Großmutter Hedwig (sie war eine eindrückliche Frau), die gesamte Sippschaft bei runden Geburtstagen zwei Tage in einer Lüneburger-Heide-Pension zum Heidschnucken-Essen zwangseinzuquartieren. Konrad, der Gießener Chefarzt-Schwager meiner Mutter, schoss mit Inbrunst Sippenfotos, wobei ich, im Rückblick: ein wenig infantil, partout nicht abgelichtet werden wollte. Dabei war die Verwandtschaft doch überwiegend vorzeigbar. Nur Großonkel Hans-Georg, der einst als Überseekaufmann mit Chilesalpeter seine Geschäfte machte, frohlockte nach dem dritten Glas Rotspon über die Ermordung Salvador Allendes. Ich wollte augenblicklich abreisen. Dabei habe ich meiner Hamburger Großmutter, an die ich gerne zurückdenke, viel zu verdanken, vor allem manch vergnügtes Silvester. Aber wer wird schon, des lieben Familienfriedens wegen, seine aufrechte Gesinnung über Bord werfen?
Ich bin durch eine eiserne Schule gegangen. 1968 hat mein Vater seinen nicht einmal vierzehnjährigen Sohn ermuntert, einen Tross seiner Studenten zur Anti-Springer-Demonstration nach Esslingen zu begleiten, um vor der Druckerei die Auslieferung der Bild-Zeitung zu verhindern. Das Vorhaben scheiterte kläglich. Aber die erste Prise Tränengas, das war eine Konfirmation der besonderen Art! »Besser, als wenn der Junge Tabak oder Haschisch raucht.« Der tröstende Appell an meine ein wenig besorgte Mutter zeugte von Weitsicht.
Ich entwickelte stattdessen bald recht schrille Marotten. Mein Zimmer direkt unter dem Dach war auf meinen dringlichen Wunsch in knalligem Orange gestrichen. Hauptsache kreischend bunt – und ein wenig aus der Reihe. Ich trug gräusliche Feincordhosen, die von der Nähfrau meiner Eltern im Halbjahresrhythmus mit grell abgesetzten Säumen verlängert wurden. Haute Couture geht anders. Aber ein wenig anders war ich schließlich auch – und gefiel mir in kanariengelben Rollkragenpullovern.
Dem Dasein des jungen Nonkonformisten, der sich unbekümmert einmischte, ließ sich einiges abgewinnen. Als Abgesandter des Bunds Deutscher Pfadfinder beantragte ich auf einer abendlichen Sitzung des Stadtjugendrings, meinem nicht mehr ganz frischen Turnlehrer das Bier zu entziehen. Beim Schwäbischen Tagblatt in Tübingen habe ich als Siebzehnjähriger den Metteuren beim Umbruch über die Schulter geschaut, atmete mit Begeisterung toxische Bleisatzluft und durfte für den Lokalteil erste unbotsame Artikel verfassen, die ich mit einem kursiv gesetzten tj zeichnete. Mächtig stolz auf das eigene Kürzel, knöpfte ich mir den Vizepräsidenten des Regierungsbezirks Württemberg-Hohenzollern vor. Der Vater eines Schulfreunds hatte sich vehement gegen ein nächtliches Fahrverbot in einem engen Altstadtsträßchen positioniert. Die Anlieger waren empört. Ich machte die Probe aufs Exempel, schlug mir eine Nacht in der Haaggasse um die Ohren, zählte die röhrenden Motorräder und geißelte empört die Bürgerferne des einflussreichen Verwaltungsjuristen, in dessen Eigenheim wir, bei Abwesenheit des Hausherrn, manch ausgelassene Party bis in die frühen Morgenstunden gefeiert hatten. Nach meiner kleinen Sottise aber bekam ich den Furor des öffentlich Kritisierten zu spüren und hochoffiziell Hausverbot erteilt. Ich lernte, Journalismus kann folgenreich sein, und war rundum zufrieden mit meiner unerschrockenen Arbeit.
Wenige Monate vor meinem achtzehnten Geburtstag haben mir Tübinger Studienräte die Versetzung in die Unterprima verweigert. Vermutlich hatten sie recht. Aber ich dachte nicht daran, mich dem Marschbefehl meines Mathematiklehrers namens Heinzelmann zu fügen: »Richte dich auf eine Ehrenrunde ein!« Ich richtete mich nicht, verließ mit Trauer und Wut nicht nur meine alte Schulklasse, sondern zugleich die pädagogische Anstalt am Neckar. Auf zu neuen Ufern. Dank der Unterstützung meiner Eltern durfte ich die Odenwaldschule besuchen.
Heute schäme ich mich, dass ich nicht genau genug hingeschaut habe. Hinweise auf systematischen Missbrauch gab es genug. Für mich aber, der von jedem Übergriff verschont blieb, waren es zwei grandiose Jahre des Lernens in Freiheit. Schluss mit dem öden Frontalunterricht! Hier war Schule ein Spiel nahezu ohne Grenzen. Die Abgründe dieser Reformpädagogik habe ich erst weit später realisiert. Wir lasen und liebten, studierten Beckett, Horkheimer und Adorno. Bei der Lektüre von Erich Fromms Analyse des autoritären Charakters ließ sich meine Lust, wider den Stachel zu löcken, mit Theorie untermauern.
Selbstverständlich habe ich den Wehrdienst verweigert. Das verstand sich von selbst. Damals, Anfang der Siebzigerjahre, gab es die elenden Gewissensprüfungen noch. Ich hatte wider Erwarten Glück und wurde schon in der ersten Instanz anerkannt, obwohl der Tübinger Kommissionsvorsitzende, was damals niemanden weiter interessierte, ein ranghoher Altnazi, der berüchtigte Schlächter von Maribor war. Ich nutzte die Entscheidung der Kammer, um – eingesetzt als Hilfselektriker – noch sechzehn weitere Monate an der Odenwaldschule zu bleiben. Ich konnte mich einfach nicht trennen.
Ich hätte die Zeit sinnvoller und sozialer nutzen können, anstatt um den eigenen Nabel zu kreisen. Mein Bruder etwa hat, Jahre später und deutlich überzeugender, mit behinderten Jugendlichen gearbeitet. Ich bin da hinter den eigenen, selbstgewiss formulierten Ansprüchen geblieben. Verweigerung, die Tugend des Neinsagens sollte zu Taten verpflichten.
Der Bogen von meinen ersten Konfrontationsübungen zu meiner Krankheit, die erst Jahrzehnte später manifest wurde, scheint weit, ist es aber nicht. Im Gegenteil: Beidem liegt ein gemeinsamer Mechanismus zugrunde: Sowohl im Umgang mit mir selbst und meiner Gesundheit als auch in der journalistischen Auseinandersetzung war ich beklemmend häufig als recht rigider Zeitgenosse unterwegs. Gebotene Grenzen habe ich nicht oder erst deutlich zu spät respektiert. Ich war aufrecht, durchsetzungskräftig und furchtlos, aber an gutem Benehmen hat es mir häufig gemangelt. Manieren, zivile Umgangsformen sind bekanntlich nicht zuletzt Ausdruck des Respekts, der Rücksicht aufs Gegenüber und ein Minimum an zivilem Konsens. Toni, stets verbindlich und zuvorkommend, meine bessere Hälfte im wahrsten Sinne des Worts, beherrscht diese Tugenden perfekt. Sie geht pfleglich mit sich und ihren Nächsten um, sie hält die wenigen Dinge, die sie besitzt, in Ehren. Ich tue mich damit schwer. Ob nun bei Tisch, in der Zusammenstellung meiner Garderobe oder in puncto Höflichkeit: In meinem satten Leben ist gelegentlich nicht nur der Zuckerspiegel entgleist.
Der berufliche Sündenfall war zweifellos der Einstieg ins Haus des toten Schriftstellers Uwe Johnson, 1984 auf der englischen Isle of Sheppey. Der Autor der Jahrestage sah sich – er hat es in den Frankfurter Poetikvorlesungen öffentlich gemacht – von seiner Frau mit einem tschechoslowakischen Agenten betrogen. Das war in seinen Augen gleich mehrfacher Verrat. Ebendies konnte ich nur allzu gut verstehen. Meine Frau Annette hatte mich ungefähr zur gleichen Zeit für einen Polizeimeister aus Hamburg-Barmbek verlassen. Das kam der Höchststrafe gleich. »Bullen«, das waren für mich, den Demonstranten in Brokdorf, Gegner per se. In meinem Ego verletzt, trieb mich die Frage um, wie es dem einsam gestorbenen Dichter in scheinbar vergleichbarer Lage ergangen war. Als Literaturredakteur des Stern hatte ich von der Existenz der in einer Kladde festgehaltenen Beichte von Johnsons Ehefrau erfahren. Die wollte ich, in einem Akt fataler Anwandlung, um jeden Preis finden. Also kletterte ich durch ein Kellerfenster und durchstöberte das Arbeitszimmer des toten Dichters. Mit welchem Recht? – Auch wenn ich es zunächst nicht wahrhaben wollte: Meine fristlose Entlassung war die einzig richtige Konsequenz.
»Du hast Hornhaut auf der Seele!«, hat mir meine Ex-Frau Marta einmal bei einem heftigen Streit an den Kopf geworfen. Ganz falsch lag sie nicht mit ihrer bösen Diagnose. Ich bin ein durchaus sensibler Beobachter, an Empathie, an tätigem Mitgefühl aber hat es mir oft gefehlt. Hornschwielen, totes Gewebe an empfindlichen Stellen, machen taub, lassen das Gespür für Schmerz, ob nun zugefügt oder erlitten, verkümmern. Die Anamnese meiner Krankheit ist nur mit einer weit zurückreichenden, nicht eben schmeichelhaften Selbstkonfrontation zu erheben. Warst du dir selber ein Freund?
Meinen Körper habe ich über viele Jahre ohne einen Anflug von Selbstdisziplin gemästet. Die Libido verkam oft zur Triebabfuhr. Die erste einschlägige Erfahrung sammelte ich mit vierzehn in einem Kasseler Puff mit dem malerischen Namen »Bienenkorb«, als ich meinen Patenonkel in der Fuldastadt besuchte. Auch später brachte ich Liebe und Sexualität, Gefühle und Geilheit aller regelmäßigen, aber jedesmal bald wieder über Bord geworfenen Besserungsvorsätze zum Trotz nur selten in Einklang. Für vieles schäme ich mich. Der Rest bleibt privat. Aber die lang praktizierte Doppelmoral, der Verrat an den gern proklamierten Werten wie Treue, Verlass und Aufrichtigkeit, tat weder meinen Begleiterinnen noch all den ohne jede Perspektive begonnenen Verhältnissen und auch nicht dem eigenen Seelenheil gut.
Ein geordnetes, sozial geerdetes Leben schaut anders aus. Woran es vor allem fehlt, ist Kontinuität. Ich habe Talent, mich zu verzanken. Gute Freundschaften, langjährige kollegiale Bindungen sind nicht zuletzt an meiner Lust am leidenschaftlichen, bevorzugt schriftlich ausgefochtenen Disput zerbrochen. Die Möglichkeiten des spontanen E-Mail- oder SMS-Verkehrs waren – genauer gesagt: sind – für mich Vergnügen und Verhängnis zugleich. Wenn ich, etwa in beruflichen oder redaktionellen Angelegenheiten, anderer Meinung war, habe ich mit Wonne die Klingen gekreuzt und mich nicht selten im Ton vergriffen. Arbeit und Leben sind für mich höchst emotional besetzte Bereiche. Sie voneinander zu trennen ist meine Sache nicht. Streit, der sich in wortgewaltiger Polemik entlädt, kann wohltuend befreiend sein. So manch Geschmähter aber hat den durchaus spielerisch hingeworfenen Fehdehandschuh nicht aufgenommen und sich beleidigt, verstört und oft für immer zurückgezogen.
Schmerzhaft etwa war der Bruch mit einem aufrechten, großzügigen Menschenfreund aus dem Fränkischen. Er ist über achtzig Jahre alt. Der einstige Unternehmer und Erfinder fand nach strahlend erfolgreichen Berufsjahren eine neue Lebensmission und wurde zum leidenschaftlichen Kämpfer fürs menschenwürdige Sterben. Er kennt nahezu jede Publikation zum Thema. Seiner Heimatstadt hat er eine Palliativstation gestiftet. Wir haben uns bei einer Lesung aus meinem Demenzbuch kennengelernt, uns fortan oft zum Gedankenaustausch getroffen und uns die Köpfe heißgeredet, als der Bundestag 2015 den Strafgesetzbuchparagraphen zum ärztlich assistierten Suizid verschärfte. Im Auftrag des geschickt operierenden Streiters habe ich das Manuskript eines tüchtigen, aber hemmungslos eitlen Notfallmediziners grundlegend umgeschrieben, der aus leidgeprüfter Erfahrung mit den Geschäften der Medizinindustrie am Lebensende abrechnete. Gemeinsam formulierten wir eine pointierte Anklage, aber auf den letzten Metern meines Daseins als Ghostwriter kam es mit dem Arzt zum heftigen, von mir zunächst unversöhnlich geführten Streit – wie ich denke, zu Recht. Dennoch, das Buch wurde ein Seller. Mein Gönner hat sich auf die Seite des Arztes geschlagen und brach jeden Kontakt zu mir ab.
Die Geschichte hat leider Methode. Meine Kompromisslosigkeit hat so manches Zerwürfnis provoziert. Die einstige Pflegerin meines Vaters bin ich am Ende hart angegangen. In der Sache habe ich mir auch heute nichts vorzuwerfen. Sie, die vermutlich nicht ganz ohne ihr Zutun medial so gerne als selbstlos-gütige Bauersfrau von der Schwäbischen Alb stilisiert wurde, scheint am Ende das Leiden ihres Schützlings Walter Jens womöglich doch eher wenig skrupulös für sich genutzt zu haben. Aber in der Aggressivität, die ich ihr gegenüber nach dem Tod meines Vaters an den Tag legte, habe ich die rote Linie überschritten.
Und nicht nur hier. Der aus meiner Sicht unausweichliche, aber von mir allzu hitzig befeuerte Konflikt mit dem Advokaten meiner Mutter landete sogar beim Tübinger Oberstaatsanwalt, der das Verfahren allerdings – ich werde dem Mann ewig dankbar sein – mangels Wiederholungsgefahr gegen fünfhundert Euro Geldbuße einstellte.
Die Folgen einer Existenz, die niemals geschmeidig war und nie perspektivisch geschickt die Konsequenzen des eigenen Handelns bedachte, lassen sich nicht ungeschehen machen. Das gilt für meinen Diabetes, der nicht mehr zu heilen, nicht einmal entscheidend zu lindern ist. Das gilt ebenso für mein Journalistendasein, das faszinierend und ergebnisreich war, aber vielleicht eben darum nie für eine bis ins Rentenalter abgesicherte Laufbahn bei einer Zeitung, einem Verlag oder einer Sendeanstalt taugte. Dort hätte ich mich beugen und biegen müssen. Ich zog es vor, autonom und unverträglich zu bleiben, mich ohne Verankerung in Seilschaften oder Netzwerken als Einzelkämpfer durchzuschlagen und manchem allzu Selbstgewissen das Leben ein wenig saurer zu machen. Für mich war’s eine lohnende Erfahrung, die sich allerdings gelegentlich gravierend rächte.
Eigentlich wollte ich Marcel Reich-Ranicki 1994 mit einem knapp achtminütigen Beitrag für den WDR-Kulturweltspiegel nur einen kleinen Denkzettel verpassen – ihn an seine stalinistischen Lobeshymnen in der DDR-Literatur-Zeitschrift Sinn und Form erinnern. Vor allem aber schien es mir angezeigt, den wirkmächtigen Literaturpapst an seine Jahre zwischen 1949 und 1952 zu erinnern, als Marceli Reich polnischer Vizekonsul in London war – und dort zugleich, im Rang eines Hauptmanns, ein »Ubek«, ein verdeckt operierender Agent des Warschauer Nachkriegsgeheimdiensts MBP. Ein Schranze Stalins, Diener einer Verbrecherinstitution. Ein kurzer Artikel in der Tageszeitung Gazeta Wyborcza hatte erste Hinweise auf den Fall gegeben.
Die Hauptstadt des englischen Königreichs war aus polnischer Sicht einst ein besonders sensibler Ort. Von hier aus agierte die polnische Exilregierung, die von Reich-Ranickis moskautreuen Instrukteuren mit Härte und Brutalität bekämpft wurde. Inwieweit der an die Themse delegierte Dunkelmann direkt an der Verfolgung und an gelegentlich mit einem Genickschuss endenden Rückführungsaktionen von missliebigen Exilpolen beteiligt war, lässt sich bis heute nicht abklären. Viele entscheidende Akten sind verloren oder noch immer gesperrt.
Mein kurzes Fernsehfeuilleton – aus dem Jahr 1994 wohlgemerkt, mehr oder minder aus Nachwendezeiten also – konnte eine komplexe historische Aufarbeitung aus naheliegenden Gründen nicht leisten. Ein Fernsehmagazin kennt keine Fußnoten. Aber der Hinweis, dass Reich-Ranicki seine Zeitgenossen mit einer Elle maß, die er an sich selber nicht anlegen wollte, schien mir ebenso legitim wie notwendig. Sein Dasein als Spitzel für den polnischen Geheimdienst hatte er bis dato tunlichst verschwiegen. Aber mit welcher Boshaftigkeit (»Volksschullehrerin aus der Provinz«), mit welchem Furor hat er Christa Wolf traktiert, die 1993 ihre weit zurückliegende Stasi-Vergangenheit aus freien Stücken bekannte. »Es geht nicht darum, daß sie verblendet war, sondern daß sie es geblieben ist«, hat er am 4. April 1994 im Spiegel geschrieben, »Christa Wolf bleibt unbelehrbar.« Das Stück im Kulturweltspiegel, wenige Wochen später, verstand sich als Antwort, als Beitrag zur Debattenkultur in zeitgeschichtlich turbulenten Zeiten.
Auf welch vermintes Terrain ich mich mit meiner Recherche begab, realisierte ich nicht. Mir fehlt – und hier schließt sich wieder einmal der Kreis zu meinem Diabetes – ein realistisches Sensorium für lauernde Gefahren. In Sachen Selbstschutz bin ich ein Totalausfall. Die Rachsucht des deutschen Feuilletons schien grenzenlos. Reich-Ranicki behauptete im heute-journal allen Ernstes, niemals als polnischer Schlapphut unterwegs gewesen zu sein. Seine Freunde und Schüler glaubten ihm aufs Wort und eröffneten das Trommelfeuer. Dabei hatte ich für den Beleg meiner Behauptung einen veritablen Zeugen und gleich mehrere eidesstattliche Versicherungen. Das aber zählte nicht. Ohne Unterlass fuhr der Spiegel immer neue Geschütze auf. Dort schalt mich Wolf Biermann, von Reich-Ranicki mit Desinformationen gefüttert, ob meiner »denunziatorischen Fernsehdokumentation« ein »welkes Kind«, ein »Rotzlicht«. Broder sekundierte. Norbert Blüm, Mitglied des WDR-Rundfunkrats, forderte personelle Konsequenzen. Der Literaturchef der Zeit – bei der FAZ einst Eleve des Kritikers, heute weit rechts unterwegs – unterstellte mir gar Antisemitismus.
Mit nicht einmal vierzig Jahren sah ich mich als Journalist für immer erledigt. Ohne deine Glaubwürdigkeit bist du in diesem Job verloren – zu Recht! In einem letzten Aufbäumen flog ich auf eigene Faust nach Warschau. Nach tagelangem, verzweifeltem Stöbern in historischen Archiven, letztlich ohne substantielles Ergebnis, rief mich, völlig überraschend, der Historiker und Spionagespezialist Andrzej Paczkowski an. Vielleicht könne er mir helfen.
Eine halbe Stunde später war ich an der Uni. Über die langen Flure breitete sich scharfer Lysolgeruch. Der freundliche Gelehrte hielt ein in blauem Leinen gebundenes Buch in den Händen, von dem es, wie er sagte, nur noch drei Exemplare gäbe: ein brisantes Verzeichnis, in den Fünfzigerjahren erstellt, das zur Dokumentation späterer Versorgungsansprüche die Lebensläufe wichtiger Geheimdienstmitarbeiter auflistete, Fotos inklusive. Unter dem Namen Marceli Reich wurde ich fündig.
Getrieben von der Hoffnung auf öffentliche Rehabilitierung eilte ich nach Neuseeland, um dort Reich-Ranickis einstigen Geheimdienstkollegen in London, den Ex-Doppelagenten Krzysztof Starzynski persönlich zu befragen, der mir die Zusammenarbeit mit seinem damaligen, karrierefixierten Vorgesetzten dann auch plastisch beschrieb. Dann ging es von Auckland mit zwei Filmbüchsen zurück nach Deutschland. Mein Aufenthalt am anderen Ende der Welt dauerte gerade einmal zehn Stunden. Letztlich war der Trip ein Akt der Barbarei und vor allem der Ausbeutung der eigenen Physis. Aber die Zeit drängte. Dachte ich jedenfalls.
Reich-Ranicki konnte seine Spitzeltätigkeit nun nicht länger bestreiten. Und Wolf Biermann hat sich nobel für seine Invektiven entschuldigt. Viele von Reich-Ranickis Verehrern und Fans aber haben mir meine Enthüllung nie verziehen. Da hätte ein Deutscher zum zweiten Mal die Hatz auf den einstigen Insassen des Warschauer Ghettos eröffnet, der in Polen nur haarscharf der Ermordung durch Hitlers Schergen entkam.
Ich bleibe bis heute dabei: wer dermaßen rabiat auszuteilen pflegte wie er, der durfte mit einem dunklen Kapitel seiner Vita konfrontiert werden. Als mich Ulrich Greiner in der Zeit einer »antisemitisch riechenden Attacke« beschuldigte, habe ich ihm einige Wochen später an gleicher Stelle geantwortet. »Mit Verlaub: Ich halte es für eine Selbstverständlichkeit, daß auch ein Überlebender des Holocaust heftig kritisierbar sein muß. Sonst bauen wir ein goldenes Ghetto, dessen Normen und Tabus Maxim Biller (…) sarkastisch beschreibt: ›Sag danke, Jude, sie schenken dir mal wieder den Holocaust-Jagdschein, und sie wissen auch warum.‹ Diese Entmündigung darf Marcel Reich-Ranicki nicht widerfahren.« Da bin ich auch gut fünfundzwanzig Jahre später mit mir im Reinen.
Und doch hätte ich, aus heutiger Sicht, bedenken, ja mitfühlen sollen, wie es ihm ergehen musste, welche Ängste, welche Empörung wach wurden, als er, dessen Familie die Nazis vergasten, sich für sein Verhalten nach seinem Überleben in Warschau rechtfertigen sollte. Und das gegenüber einem Deutschen, dem Sohn eines seiner besten Freunde zudem. Die Debatte, die unser Report im Kulturweltspiegel anstieß, war wichtig, aber ein bisschen Demut, ein abwägendes Urteil, weniger Hornhaut auf der Seele hätten dem Bericht gut angestanden.
Ich habe möglicherweise einiges bewirkt in meinen bald fünfzig Berufsjahren. Aber ein gewisser Hang zum Grobianismus, den ich auch im Umgang mit mir selber walten ließ, lässt sich schwer leugnen.
Ein ARD-Fernsehfeature über die Abgründe der plastischen Chirurgie und die ersten Gesichtstransplantationen eröffnete ich mit Aufnahmen, in denen ein Pathologe am Seziertisch vor laufender Kamera einer Leiche das Konterfei entnommen hat. Und wunderte mich, dass nicht wenige Zuschauer in den ersten Minuten des Films wegschalteten. Ein andermal ließ ich, um im Jahr 2007 das von christlichen Fundamentalisten, den Hardlinern des Herrn, gern beschworene Strafgericht Gottes zu illustrieren, eine Bibel in Flammen aufgehen, ausgerechnet die »Volksausgabe« von Bild, auf dem Einband Dürers gefaltete Hände. Der Sturm der Entrüstung war veritabel. Auch Wolfgang Bosbach legte sich mächtig ins Zeug. Der Hessische Rundfunk sah sich zur Entschuldigung genötigt, obwohl der allseits bemühte Vorwurf einer neuerlichen Bücherverbrennung ans Groteske grenzte. Im Netz machte derweil die radikale Plattform kreuz.net mobil: »Wie schade, dass Jens nicht den Koran angezündet hat. Dann hätten wir gleich zwei Probleme gelöst.«
Eine langjährige Freundin hat mich einmal gefragt, ob mir in meinem Leben denn irgend etwas heilig sei. Nach einigem Nachdenken fiel mir dreierlei ein: Mein »Oldtimer«, die eiserne, elf Kilo schwere Schreibmaschine, die mir meine Eltern 1968 zur Konfirmation schenkten und in die ich mit mächtigem Krach meine ersten Artikel hämmerte; der mit längst brüchig gewordenem Leder bezogene Schreibtischstuhl, ein Erbstück meines 1972 verstorbenen Großvaters, den ich sehr mochte; der große, fast drei Meter lange Ess- und Arbeitstisch aus schwedischer Kiefer, der alle Umzüge, alle Beziehungen überlebte und heute in Sarajevo steht. Ich gebe zu, viel ist das nicht. Angemerkt sei freilich, dass ich diese prosaische Rechnung aufmachte, lang bevor Toni mit Wucht und Wonne in mein Leben trat. Aber da waren die Weichen gestellt.
Für mich hätte es vermutlich nur einen Grund für eine Vollbremsung, für den Bruch mit den alten Mechanismen und für eine Kehrtwende gegeben. Hätte! Enfant perdu … Meine Vita ist gezeichnet von einem großen, waidwunden Trauma: Ich habe keine Kinder. Es gibt niemanden, dem ich das Leben vom ersten Atemzug an hätte beibringen können. Niemanden, für den ich, schon allein der Verantwortung wegen, eine Beschränkung meines berufsfixierten Vagabundendaseins in Kauf genommen hätte. Viele meiner Kollegen haben eine ähnliche Entscheidung getroffen oder schlicht den Zeitpunkt verpasst. Aber Anika, Rayk, Edith, Teresa oder Anett, die krisengestählten Patchworker Britta und Jim, kurz: all die Kollegen, die Karriere und Kinder vereinten, bewundere ich schon sehr, mit einer gehörigen Portion Neid. Jetzt ist es zu spät: Ich wäre rund achtzig, wenn die Unseren in die Pubertät kämen. Das wollen wir nicht zuletzt uns beiden ersparen.
Was mich in der Erinnerung nicht loslässt, sind allerdings drei bitter gescheiterte Anläufe. Drei Fehlgeburten in drei Beziehungen, die erste 1979, die letzte 1997. Dreimal hemmungslose Vorfreude, der dreimal Trauer und Verzweiflung folgten. Meine Lieblingspatentante hat mir einst sogar schon ein Gesundheitskochbuch für werdende Väter geschenkt, das mich auf Diät zu setzen versprach. Auch wenn Analysen meiner Fertilität Entwarnung signalisierten: Noch immer nagen die Zweifel, ob nicht ich die Ursache der Unglücksfälle war. Studien belegen, dass der Diabetes schon früh die Qualität des Erbguts mindert. Doch retrospektives Grübeln führt ins Leere. Die Kraft des Faktischen lässt sich nicht leugnen: Ich werde, anders als mein Bruder, der Vater zweier Töchter ist, keine Nachfahren haben. Genetisch betrachtet, wird von mir nichts bleiben.

05
Der halbe Mann

Die Tür zu ihrer Wohnung im Tübinger Seniorenstift steht den ganzen Tag offen. Denn bis zum Eingang schafft sie es nicht mehr. Nach einem Schlägle, wie man in Schwaben sagt, also nach einem kleinen Schlaganfall, wird ihr oft schwindelig. Aber Besuch ist natürlich willkommen. Der Rollator kann meine dreiundneunzigjährige Mutter, wenn sie allein ist, nicht mehr stützen. Sie war wenige Tage zuvor auf eigenen Wunsch aus dem Krankenhaus entlassen worden und lag nun, entspannt in ihre Decke gehüllt, auf ihrem Polstersessel. Ihre Pflegerin kommt zweimal am Tag. Sie war so stolz gewesen, sich noch in ihrem hohen Alter selbst zu versorgen und – wie sie sagt: der Gesundheit wegen – wann immer es ging mit ihrem Wägelchen, einige Höhenmeter überwindend, zum Grab meines Vaters zu rollen. Die Strecke zum Stadtfriedhof wird sie nun nicht mehr schaffen.
Bei meinem Besuch schien ihr die gleißende Wintersonne ins blasse Gesicht. Sie war geistig hellwach und beschwerte sich, obwohl sie eigentlich die Inkarnation protestantisch-spartanischer Bescheidenheit ist, heftig über das ungenießbare Klinikessen der vergangenen Wochen. Nie wieder ins einst so geschätzte Paul-Lechler-Krankenhaus! Ansonsten aber wolle sie nicht klagen. Hans Küng, dem Freund und einstigen Nachbarn, ein wenig jünger als sie, gehe es schließlich bedeutend schlechter.
Ich wurde den Eindruck nicht los, dass sie die Dinge um sich herum gerne geregelt haben wollte. »Wann heiratet ihr denn nun endlich?« Es war ein angenehm vertrautes Gespräch, wie wir es keineswegs immer hatten.
Sie stehe doch ohnehin schon mit einem Bein im Grab. Ihr Begräbnis hatte sie schon vor Jahren geregelt. Der Pfarrer ist bestellt. Selbst die Kantorei ihrer Gemeinde ist informiert. Brahms’ Requiem, zumindest in Auszügen, solle es schon sein. »Und wehe, ihr inseriert, ich sei ›plötzlich und unerwartet‹ von euch gegangen.« Sie lacht und redet viel von den letzten Dingen an diesem Nachmittag des Februar 2020.
»Würdest du denn gerne bald sterben?«, frage ich. Sie nickt, sie hat genug und widerruft doch im gleichen Atemzug. »Aber erst will ich noch in die Reha, um wieder laufen zu lernen.«
Ihre Beine sind spindeldürr. Sie wiegt nur noch gut fünfzig Kilo und will einfach nicht mehr genügend trinken und essen. Ob sie das bewusst entschieden hat, möchte sie mir nicht verraten.
Nach drei Stunden wird sie müde. Ich breche auf. Wie oft werde ich meine Mutter noch sehen? Mit feuchten Augen verlasse ich die Wohnung und eile zum Taxi. Früher hat sie mir beim Abschied vom Balkon hinterhergewinkt. Doch der Weg vom Lehnstuhl zum Fenster ist zu weit.
Der Regionalexpress von Tübingen nach Stuttgart hat Verspätung. Der Anschluss nach Leipzig, wo ein Auftrag über die Corona-Hysterie wartet, ist nicht zu erreichen. Ich muss auf halber Strecke in einem Frankfurter Bahnhofshotel übernachten. Eine willkommene außerplanmäßige Pause. Ich habe viel Zeit, um nachzudenken. Will Inge Jens, für die ihre Autonomie im Zentrum ihres Lebens stand, nun weiterleben oder will sie es nicht? Bäumt sie sich auf gegen den Tod oder hat sie angesichts des einsetzenden, genau registrierten Siechtums insgeheim kapituliert? Sie selber scheint mit der Frage zu kämpfen. Sie hungert, malt sich in allen Facetten ihre Totenfeier in der Tübinger Stiftskirche aus – und setzt zugleich alles in Bewegung, um wieder auf die Beine zu kommen. Die Zerrissenheit ist mir vertraut.
Lohnt es sich noch, die zuckerkillenden Tabletten zu schlucken, Insulin zu spritzen, um den Prozess des Verfalls ein wenig zu entschleunigen? Oder wäre es gradliniger, das Elend selbstbestimmt baldmöglichst zu einem natürlichen Ende zu bringen? Einfach zusehen und warten, bis es vorbei ist?
Als ich in Frankfurt angekommen bin, telefoniere ich noch lange mit Toni. Sie mag meine Mutter sehr und hat mit ihren nicht einmal vierzig Jahren dem Tod schon oft ins Auge gesehen. Den zuckerkranken Großvater bis zur letzten Stunde gepflegt, den Bruder des Vaters, der in den Schlachten um Sarajevo fiel, zu Grabe getragen. Jetzt der Alltag mit den beiden zu Waisen gewordenen Kindern – und das Leben mit einem ziemlich kranken Mann, das ein Miteinander von zwei Menschen ist, die, wie es ausschaut, kein biblisches Alter erreichen werden. Toni raucht seit Jahren fünfzig Zigaretten am Tag und will oder kann, aller Versuche zum Trotz, davon einfach nicht lassen. Die Röntgenaufnahmen geben nicht wirklich Anlass zur Beruhigung. Kurzatmigkeit. Gefahr von Pneumonien. In der selbstzerstörerischen Unvernunft stehen wir uns wenig nach. Zwei Grenzgänger, zwei Spieler mit Leben und Tod, in Liebe vereint.
Ich erzähle ihr von den Stunden in Tübingen und von den Fragen, die mich nun umtreiben. Eigentlich hat sie mit Pathos nicht viel im Sinn. Tonis spontane Reaktion verblüfft mich: »Ich möchte mich von ihr verabschieden.« Sie nimmt sich gleich fürs kommende Wochenende zwei Tage frei von den Kindern und fliegt von Sarajevo nach Deutschland. Ich habe die Tage davor noch beim MDR zu tun. Wir treffen uns am Flughafen Stuttgart. Meine Mutter ist in den vergangenen Tagen mehrfach in ihrer Wohnung kollabiert. Die Rettung war der Notrufknopf, den sie auf Geheiß der Hausärztin rund um die Uhr um den Hals baumeln hat. Jetzt liegt sie wieder im Krankenhaus. Der medizinische Befund ergibt wenig Konkretes. Lebensüberdruss ist bekanntlich keine Diagnose, die ins gängige Schema passt.
Toni besteht darauf, ihrer Schwieger-Inge in spe eine Pflanze mitzubringen. Wir eilen zu einem Floristen, der auch sonntags geöffnet hat, und erstehen einen Topf mit winzigen Tulpen. Dann geht es ins Klinikum auf dem Schnarrenberg. Meine Mutter ist sichtlich gerührt angesichts des unerwarteten, von weit angereisten Besuchs. Zur Freude gesellt sich freilich ein beklommenes Gefühl. Sie beide wissen, auch wenn es unausgesprochen bleibt, dass dies keine normale Visite am Krankenbett ist, sondern vermutlich ein Lebewohl für alle Zeit. Sie lassen sich nichts anmerken und plaudern über Gott und die Welt.
Auf einmal will sie aufstehen. Toni zieht ihr die Hauspantoffeln über die blau angelaufenen Füße. Dann schleichen wir zu dritt, meine Mutter am Rollator, über den Krankenhausflur. Sie wollte uns das kleine Agilitäts-Kunststück partout vorführen, damit wir uns keine Sorgen machen. Danach ist sie vollkommen aus der Puste. Als wir uns verabschieden, sagt sie: »Bummelt doch noch einmal durch die Altstadt und habt eine gute Zeit bis zum Rückflug.« Wir sind ihrem Ratschlag gefolgt und haben einen langen, langen Spaziergang durch die allmählich einsetzende Dämmerung gemacht.
Warum mutet sich Toni all das zu, die Alten, die Sterbenden, die Kranken? Sie ist jung, sie ist bezaubernd schön. Sie hat – auch wenn die Formulierung ein Fall fürs Phrasenschwein wäre – das Leben noch vor sich. Aber sie hat ihre Heimat, ihre Wohnung, ihre Freunde in Frankfurt verlassen, um sich erst ihrem verunglückten, bis heute nicht wiederhergestellten Vater, dann den elternlosen Kindern zu widmen, die über Nacht all ihre Zukunftspläne über den Haufen warfen. Selbst ihr eindrücklicher Hund ist lang schon ein Pflegefall. Sie hat den Kerl vor über fünf Jahren aus der Tötungsstation eines Tierheims geholt. Er war damals nur noch Haut und Knochen. Seine Vorbesitzer haben ihn grausam misshandelt, Zigaretten in einem widerwärtigen Sado-Spaß auf seinem Fell ausgedrückt. Er muss unendlich gelitten haben.
Toni hat die geschundene Kreatur, den Mischlingslabrador, der mir wider Erwarten schnell ans Herz gewachsen ist, in Frankfurt mit Geduld und viel medizinischer Fürsorge wieder aufgepäppelt und ihm als erstes einen neuen Namen verpasst. Bruce klang brutal. Nun heißt er Yoda, respektvoll getauft nach dem lichtschwert-erleuchteten Meister aus der Star-Wars-Saga, dessen Dasein phänomenale neunhundert Jahre währte. Sarajevo allerdings hat ihm nicht gutgetan. Dreimal wurde er von streunenden Straßenhunden angefallen und mühsam wieder zusammengeflickt. Er kann nur noch auf einem Auge sehen und humpelt mit seiner lädierten Vorderpfote tapfer durch den Tag. Mittlerweile reihe ich mich nahtlos ein in Tonis ziemlich ramponiertes Umfeld.
Manchmal denke ich, es wäre für Toni das Beste, wenn ich sie in einem psychischen Gewaltakt verließe. Wieviel Krankheit, wie viele Blessuren kann ein Mensch ertragen? An Liebe fehlt es uns nicht. Unsere dem Job abgerungenen Begegnungen sind vertraut und intensiv, unsere gemeinsamen Reisen wohltuend selbstverständlich. Meine Mutter hat vor Jahren, als ich ihr freudig meine neue Partnerin vorstellte, den Nageltest gemacht und in der ihr zu eigenen hanseatischen Kühle die Frage aller Fragen gestellt. »Habt ihr euch etwas zu sagen?«
Ja, das haben wir. Wir können sogar ganz wundervoll streiten. Nicht Degen, sondern Florett. Als ich Toni wieder einmal vorhalte, dass sie im Schlafzimmer gequalmt hat, kontert sie trocken: »Wackel doch einmal mit dem großen Zeh!«
Ich hisse die weiße Fahne. Dann fallen wir uns vergnügt in die Arme.
Allein, mein Diabetes spielt uns übel mit. Bei rund der Hälfte aller männlichen Patienten verweigert das Gemächt seine Dienste. In den einschlägigen Foren wird das Tabuthema der erektilen Dysfunktion, der »Impotentia coeundi«, reichlich verklemmt mit dem Begriff Männergesundheit umschrieben. Leider auch mir kam die Potenz aufgrund der fortgeschrittenen Nerven- und Gefäßschädigungen zunehmend abhanden. Viagra oder Cialis konnten keine Abhilfe schaffen. Recht kläglich gescheitert sind auch die Versuche, dem schlaffen Elend mit einer Injektion direkt in den Schwellkörper zu Leibe zu rücken. Da regt sich nichts mehr. Das Spiel ist aus und vorbei.
Nach meinem Empfinden gab es nach dem bitteren Erwachen nur die eine Konsequenz: die Karten zurückzugeben. Irgendwann ist der Ausbruch doch programmiert. Jedes menschliche Wesen, die geliebte Frau allemal, hat ein Anrecht auf ein in vollen Zügen ausgelebtes Sexualleben, möglichst innig und abgrundtief versaut zugleich. Ich selber habe dies Privileg für mich einst reichlich in Anspruch genommen.
Was also tun? In der Not, die sich nicht länger leugnen ließ, schlug ich Toni – wie ich dachte, generös – das Konstrukt einer offenen Beziehung vor: Wir bleiben einander weiterhin aufs Engste miteinander verbunden. Aber du darfst, wenn dir danach ist, schlafen, mit wem immer du magst. Moralisierende Begriffe wie Betrug oder Fremdgang soll es zwischen uns fortan niemals geben.
Die Meine zeigte mir entrüstet den Vogel. »Lass dir gefälligst Alternativen einfallen. Bemüh deine Phantasie! Davon hast du genug.« Und dann fügte sie aufmunternd einen grandiosen und tröstlichen Satz hinzu: »Beischlaf wird überschätzt!«
Ich vermisse ihn trotzdem, den Mann, der ich einmal war. Und ich ahne, irgendwann wird Toni ausbrechen, ausbrechen müssen.
Doch so arg mir die Physis auch zusetzt: Untergehen gilt nicht! Aufgeben wäre das Letzte.

06
Endzeitstimmung: Mein Diabetes in den Zeiten von Corona

((Hierzu finden sich keine weiteren Aufzeichnungen.))
Statt einer Erklärung: »Du sollst sterben dürfen«
Vortrag von 20151
Als ich heute morgen aus meinem Fenster guckte und auf die verschneite Landschaft hier am Starnberger See schaute, musste ich daran denken, dass vor genau zehn Jahren die letzte Geschichte meines Vaters begann, das Demenz-Drama von Walter Jens. Er saß – es hatte in der Nacht zuvor geschneit – im Zug nach Aachen, sollte dort einen Vortrag halten, einen kleinen Zwischenruf während des Neujahrskonzerts. Beethovens Neunte. Er sollte extemporieren über die Freude, einen Zustand, den er eigentlich nicht mehr selber kannte, schon zu diesem Zeitpunkt. Und nun saß er zittrig im Zug, sagte zu meiner Mutter: »Inge, rede du. Ich kann das nicht mehr.« Er verlangte nach Psychopharmaka.
Bis zuletzt war es unklar, ob er seinen Vortrag halten würde. Er war bereits stark angegriffen an diesem ersten Januar 2005. Doch dann, wie abgesprochen, vor Beethovens Finale, trat er auf die Bühne, und auf einmal war alle Angst wie verflogen, der bald zweiundachtzigjährige Rhetor erwachte und hielt seine letzte große oder größere Rede. Da schlüpfte er in die alte Pose, obwohl er sonst eigentlich schon wirklich elend dran war, aber die Droge Publikum, die Droge Öffentlichkeit zeigte ein letztes Mal Wirkung.
Achteinhalb Jahre später, am 9. Juni 2013, abends kurz nach halb zehn, rief mich meine Mutter an – sehr gefasst – und sagte nur: »Papi ist vor einer halben Stunde gestorben.« Am Nachmittag hatten wir noch telefoniert. Sie sagte, er hätte einen leicht grippalen Infekt.
Ich fragte: »Soll ich kommen?«
Sie sagte: »Nein, da passiert jetzt nichts.«
Außerdem hatte ich mich doch, und das ist für mich ein ganz großes Geschenk, schon ein gutes halbes Jahr zuvor von ihm verabschiedet. Da hatte er einen Schlaganfall, einen leichten, man dachte, er würde, er könne in den nächsten Stunden sterben. Ich war gerade in Kassel und bekam noch den letzten Zug, um nach Tübingen zu fahren. Dort angekommen, habe ich mich in der Nacht an das Bett meines Vaters gesetzt und über Stunden mit ihm gesprochen. Habe ihm immer wieder gesagt: »Du darfst jetzt sterben«, dabei natürlich wissend, dass er kein Wort davon versteht. Aber es war mir unendlich wichtig – und damit hatte ich ein Stück abgeschlossen.
Allein: Mein Vater, der im wahrsten Sinne des Worts ein gutes Herz hatte, hat auch diese Krise überlebt. Unsere Begegnungen danach waren irgendwie seltsam.
Seine Todesstunde, gut sieben Monate später, war merkwürdig. Meine Mutter, die nun wahrlich keine spirituelle Spökenkiekerin ist und sich noch auf einen kleinen Abendspaziergang gemacht hatte, berichtete später: »Auf einmal sah ich einen riesigen Regenbogen. Ich staunte, freute mich daran, kehrte zurück.« Aber da eilte ihr schon Alois, der Mann seiner urschwäbischen Pflegerin entgegen und sagte, völlig aufgeregt: »Frau Jens, Frau Jens, machet Se schnell, i glaub, Ihr Mo schnauft nemme.« Er hatte aufgehört zu atmen.
Als ich vom Tod meines Vaters hörte, fuhr kein Zug mehr von Frankfurt nach Tübingen. Ich habe keinen Führerschein, ich habe nur eine Bahncard 100, eine Netzkarte. Ich hatte mit meiner Mutter besprochen, ganz früh am nächsten Morgen zu fahren. Also habe ich meine beste Flasche Rotwein aufgemacht. Ich war unendlich erleichtert. Der Satz von Jonathan Franzen kam mir in den Sinn. Auch der Vater von Franzen war an Alzheimer erkrankt. Der Sohn schreibt: »Als mein Vater seinen letzten Atemzug machte, hatte ich schon viele Jahre um ihn getrauert.« Jetzt konnte ich einzig wohlige Freude, große Dankbarkeit empfinden.
Mein kranker Vater war tatsächlich gestorben. Nach neunjährigem, am Ende zunehmend qualvollem Leiden. Die Stunden, seine letzten, waren immerhin friedlich. Ein kurzer Fieberschub, dann war es vorbei. Sein Tod – und davon wird hier natürlich zu berichten sein – aber war so ganz anders, als er sich dies – auch in öffentlicher Rede – gewünscht hatte. Lassen Sie mich, um zu zeigen, wie ich das meine, die knappe Eingangspassage aus meinem Buch über die Demenz meines Vaters zitieren:
»Eine angestaubte Video-Kassette, mit rotem Kuli beschriftet. Sterbehilfe – Papi. 13. August 2001. Fernseh-Aufnahmen. Wir saßen am Neckar in einem Stocherkahn, der Hölderlin-Turm: vis-à-vis, und unterhielten uns über die letzten Dinge. Ob ein Mensch, zumal ein Christ, der unheilbar krank sei, von Schmerzen gepeinigt, nicht mehr er selbst, sich wirklich ergeben in sein Schicksal fügen müsse, bis ihn Gott endlich erlöse – oder ob es nicht doch ein Recht auf ein selbstbestimmtes Ende in Würde gäbe, ein Recht auf Euthanasie im ursprünglichen Sinne des Worts, ein Recht auf einen schönen, gnädigen Tod.
Die Sonne strahlte, und der damals 78jährige, der sagte, er sei nicht mehr im Vollbesitz seiner Kräfte, war sich seiner Sache ganz sicher. Auf dem unter der großen Trauerweide vertäuten Kahn hat er den freundlichen Tod beschworen, den ein Mensch, der auf keine Heilung mehr hoffen kann, mit Fug und Recht ersehne: dem sollte ich im Zeichen der Liebe helfen können. Immer wieder hat er, leger im weißen Hemd, auf den Arzt Max Schur verwiesen, der den todkranken Sigmund Freud mit einer Überdosis Morphium von seinem qualvollen Krebsleiden erlöste: Er wusste, einer wird dir beistehen – wir könnten endlich viel gelassener leben, wenn wir wüssten: ein Arzt oder eine Ärztin wird dir helfen, den kleinen Übergang erleichtern. Und dann hat er, höchst entspannt, mit einem Lächeln hinzugefügt, dass er im Fall eines Falles auch einen Max Schur habe, der, wenn es soweit ist, aus Nächstenliebe dem Willen seines Patienten folgen wird.
Es ist düster und kalt, als ich mir das Band mit unserem Gespräch Jahre später noch einmal ansehe. Meine letzte Frage damals hatte ich lange vergessen, den Einwand, Freud habe Rachenkrebs, unerträgliche Schmerzen gehabt, was aber wäre, wenn du Alzheimer hättest? Darf das ein Sohn fragen? Ich durfte. Und mein Vater war in seinem Element: Wenn die Autonomie des Menschen nicht mehr im Zentrum steht, wenn ich nicht sagen kann, Tilman, du siehst selbst, es ist an der Zeit – ich sage mit dem Mann da oben – er meinte nicht Gott, sondern den Dichter des Hyperion, der in seinem goldgelben Neckarturm fast 40 Jahre lang dem Tod entgegendämmerte – ich sage mit Friedrich Hölderlin: April, Mai und Junius sind ferne, ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne … dann möchte ich das mir von Gott geschenkte Leben zurückgeben. Was ihm Angst machte, war die Vorstellung, einer unheilbaren Krankheit, einem endlosen Siechtum wehrlos ausgeliefert zu sein: Ich will sterben, nicht gestorben werden.«
In seinem Buch Menschenwürdig sterben, das er mit seinem Freund Hans Küng zusammen schrieb, hat mein Vater dies Credo präzisiert:
»Darf ich nach einem selbstbestimmten Leben nicht auch einen selbstbestimmten Tod haben, statt als ein dem Gespött preisgegebenes Etwas zu sterben, das nur von fernher an mich erinnert? Und dieses letzte Bild wird bleiben und überdauert für die Nachfahren auf lange Zeit die Impressionen, da ich ein ›Ich‹ und kein ›Es‹, ein denkendes Wesen und kein zuckendes Muskelpaket war, kein Drahtmensch, sondern ein Wesen, dessen Stolz vielleicht in seiner Schwäche bestand – aber einer bedachten und eingestandenen Schwäche.«2
Wie viele von Ihnen wissen, hat mein Vater nicht den Weg in den Freitod gewählt. Ich meine aber, an der Wichtigkeit, ja an der Richtigkeit seiner zum Teil zusammen mit dem Theologen Hans Küng aufgestellten Thesen ändert das nichts. Umfragen belegen: das Gros der Bevölkerung ist bereit, den Ansichten der beiden zu folgen. Ich darf daran erinnern, vier Fünftel aller Deutschen sind für die Legalisierung von aktiver Sterbehilfe. So der ARD-Deutschland-Trend vom Herbst 2014.
Mancher Vertreter der Kirchen fürchtet angesichts dieses Plebiszits ein weiteres Abschmelzen der eigenen Pfründe. Bei allem Respekt, meine Damen und Herren, vor der großartigen Arbeit der Seelsorger und Krankenhauspfarrer: Die Vertreter der Kirchen sollten sich aus diesem Thema besser heraushalten. Die Entscheidung über den eigenen Tod ist Privatsache des Sterbenden. Sterbende gehören niemandem – und schon gar nicht einer Institution, die sich nicht zuletzt durch die Verbreitung von Angst am Leben hält (die Existenz des Fegefeuers ist im gültigen Katechismus festgeschrieben). Und auch wir Protestanten tun uns ja bisweilen schwer mit dem Freitod, der immer noch als Selbstmord denunziert wird. Sterbende aber sind keine Mündel der Kirche. Sterbende sind zuallermeist verdammt elend dran – und sollten wenigstens ein Recht darauf haben, sich ihre Begleiter, die Helfer in der letzten Stunde frei zu wählen. Den Partner, die Familie, den Palliativmediziner und natürlich, wenn es dem freien Willen entspricht, auch den Pfarrer – oder, in begründbaren Ausnahmefällen, eben einen barmherzigen Arzt, der sich der Hilfe beim Suizid nicht verweigert. Wobei klar sein muss, dass kein Arzt zu dieser Handreichung gezwungen werden darf. Aber standesrechtlich verfolgt werden darf er eben auch nicht. Freiheraus gesagt: Ich halte das Ansinnen, den ärztlich assistierten Suizid unter Strafe zu stellen, für schändlich.
Noch einmal, mein Vater ist einen anderen Weg gegangen, aber darin liegt – und das ist mir wichtig – aus meiner Sicht nicht der geringste Widerspruch.
Er hat ja nicht gefordert, jeder, der eine bestimmte Krankheit hätte, müsse diesen Weg gehen. Er hat gefordert, dass jeder das Recht haben müsse, frei über das Ende seines irdischen Daseins zu entscheiden. Und das, meine Damen und Herren, ist meines Erachtens ein gewaltiger Unterschied. Und darum empören mich all die Versuche, meinen Vater postum zum Kronzeugen gegen die eigenen Thesen machen zu wollen und den assistierten Suizid mit dem biblisch verankerten Tötungsverbot zu verdammen. Das fünfte Gebot aber lautet: Du sollst nicht morden! Nicht töten, sondern morden. Zum Tatbestand des Mords allerdings gehören stets niedere Motive. Und die sind Max Schur – und all den Ärzten, die ihm folgten – nun mit Gewissheit nicht zu unterstellen.
Auch einigen Schriftstellerkollegen meines Vaters wäre einiges erspart geblieben, wenn ihnen Mediziner ein würdiges Sterben, einen vergleichsweise guten Tod ermöglicht hätten. Wolfgang Herrndorf, der unrettbare Glioblastom-Patient, hätte sich nicht einsam und allein am Ufer des Berliner Hohenzollernkanals erschießen müssen. Für den alten, mir ganz gut bekannten Sachsen Erich Loest, den lebenssatten, fintenreichen Kämpfer gegen das DDR-Unrecht, der sich aus einem Fenster des Leipziger Klinikums stürzte, gilt das Gleiche. Warum haben sie nicht unblutig sterben dürfen?
Und was meinen Vater betrifft, der war, als er 2005 krank und kränker wurde, heilfroh, dass sein Arzt ihm immer wieder zugesagt hat, dass er zu seinem Versprechen stehen werde. Ich habe das hautnah erlebt. Bei einem längeren Gespräch bat mich mein Vater, frag doch nochmal bei meinem Arzt – ich nenne ihn in meinem Buch Dorfmüller – frag doch nochmal bei Dorfmüller nach, ob er denn wirklich zu seinem Wort steht. Das war ein makabres Gespräch irgendwie. Der Arzt und ich trafen uns in einem grausamen Café am Tübinger Bahnhof, und wir redeten. Und dann, am Ende, sagte er: »Ja, wenn es tatsächlich so weit ist, noch sind wir nicht an diesem Punkt, aber ja, ich werde ihm helfen.« Dann ging ich nach Hause und erzählte meinem Vater das. Und mein Vater, vorher verängstigt, guckte mich freundlich, fröhlich und gelassen an und sagte: »Das ist gut, aber es muss ja nicht gerade heute oder morgen passieren.«
Schon die tröstliche Aussicht, dass Doktor Dorfmüller zu seinem Wort stand und als Ultima Ratio den Suizid meines Vaters begleitet hätte, konnte offensichtlich Wunder bewirken. Wenn es aber eben diesen Trost nicht gibt, wenn kein gnädiger Arzt in Sichtweite ist, verlängert das bisweilen nicht das Leben des Schwerkranken, sondern verkürzt es. Im Jahr 2003 habe ich für die ARD eine Dokumentation gedreht und einen etwa fünfzigjährigen Mann aus Halle an der Saale auf seiner letzten Reise zu der Schweizer Sterbehilfeorganisation Dignitas begleitet. Der Mann, Frank Coiffier sein Name, war an einer unheilbaren Multisystematrophie erkrankt, aber er hätte noch nicht sterben müssen. Doch das Gefühl beherrschte ihn, wenn ich mich nicht jetzt, solange ich noch ein bisschen Kraft habe, auf den Weg mache, dann ist es zu spät. In Zürich wurde er von Ludwig A. Minelli mit kalter Routine erwartet, der hielt so ein Pappschild in den Händen, auf dem der Name Minelli stand. Dann wurde ein dreistündiges Prozedere abgespult. Ein Arzt rückte an, aber kein Experte, sondern ein siebzigjähriger Kinderarzt, der dem Todeswilligen bestätigte, er sei noch bei Trost. Dann hat er dieses Rezept ausgefüllt. Mit dem Kürzel, das ich nie vergessen werde, »dos. let.«, also Dosis letalis, tödliche Dosis. Dann ging Frank Coiffier mit Frau und Tochter, die ihn begleiteten, in die Apotheke. Danach in die Sterbewohnung des Dignitas-Vereins. Coiffier wurde noch gefragt: Stört es Sie, wenn der Trank bitter ist, sollen wir etwas Orangensaft beigeben? Er schluckte das Gift pur. Der Todeskampf währte drei Stunden.
Mein Vater hätte andere, humanere Optionen gehabt, gewiss. Und er hat sie dennoch nicht genutzt. Die Frage nach dem Warum beschäftigt natürlich auch mich bis heute. Hans Küng, sein Freund und Mitstreiter, wenn es um das Recht des autonomen Todes ging, hat in seiner Reflexion Glücklich sterben?, erschienen 2014, die These aufgestellt, sein Freund habe tragischerweise den richtigen Zeitpunkt verpasst, den dereinst in einer gemeinsamen Vorlesungsreihe beschworenen selbstbestimmten, würdigen Freitod zu sterben. Ich denke, die Gründe liegen ein wenig tiefer.
Mein Vater, da bin ich sicher, hat sich, als es unaufhaltsam bergab ging und die Aussetzer stärker und stärker wurden, nichts mehr gewünscht als den Tod. Aber sterben wollte er nicht. Zu tief saß bei ihm, der von Kindheit an von schweren asthmatischen Anfällen geplagt war, die Angst zu ersticken, die Angst, nicht mehr atmen zu können. Und dann gibt es da, glaube ich, noch etwas. Es gibt einen ganz fundamentalen Unterschied zwischen Hans Küng und meinem Vater, bei aller Nähe in den theologischen und ideologischen Positionen: Hans Küng ist sich, bei aller Vatikanferne bewusst, da kommt noch etwas. Also, da gibt es ein Leben nach dem Tod. Küng ist ein glaubenssicherer Mann, fest in der Vorstellung vom Jenseits verhaftet. Mein Vater aber hat in dieser Frage immer wieder seinen Freund, den großen alten Philosophen Ernst Bloch zitiert, der – schon weit über neunzigjährig – von einem Fernsehinterviewer gefragt wurde: »Herr Professor, glauben Sie denn nun an ein Leben nach dem Tode?« Darauf Bloch: »Also wissen Sie, in dieser Frage möchte ich mich gerne auf ein kleines peut-être festlegen.« Also auf ein kleines vielleicht. Und diesen Zweifel hatte mein Vater mit Gewissheit auch. Über diesen Zweifel, diese Ambivalenz will ich Ihnen noch eine winzige Passage vorlesen.
»Zwei Tage nach Neujahr 2007 – im Wohnzimmer riecht es nach Äpfeln, die am Tannenbaum hängen – rafft er sich noch einmal auf. Keine Larmoyanz in der Stimme – zum ersten Mal seit Wochen –, sondern eine beinah schon eisige Klarheit. Ihr Lieben, es reicht. Mein Leben war lang und erfüllt. Aber jetzt will ich gehen. Meine Mutter und ich widersprechen ihm nicht. Aus seiner Sicht hat er doch recht. Also nur keinen süßlichen Trost mehr. Walter, ich kann dich verstehen. Ich nicke, sprechen mag ich nicht. Reiß dich zusammen, keine Tränen, nicht jetzt! Nun ist der Zeitpunkt doch noch gekommen. Wir werden also meinen Bruder Christoph in Köln anrufen und ihn bitten, sich einige Tage freizunehmen. Minuten sitzen wir da ohne ein Wort. Dann, auf einmal, lächelt mein Vater und sagt: Aber schön ist es doch! Ein tiefer Seufzer. Dann fallen ihm die Augen zu.
… aber schön ist es doch: Redet so einer, der zum Sterben entschlossen ist? Meine Mutter, mein Bruder und ich sind uns einig, das Mandat, ihm aktiv beim Sterben zu helfen, ist in dieser Sekunde erloschen. Ein Zwar-ist-es-schrecklich-aber-schön-ist-es-manchmal-noch-immer ist keine Grundlage, um einen schwerkranken Mann aus der Welt zu schaffen. Solange er noch einen Hauch jener Freude verspürt, die er einst als das zentrale Lebenselixier beschrieb, und er vor allem keine physischen Schmerzen ertragen muss, kann ich ihm seinen Todeswunsch, den er hat – aber eben auch nicht! – schwerlich erfüllen. Ich darf es nicht tun. Nicht einmal helfen. Ich habe Glück gehabt und bin unendlich erleichtert.«
Denn ich hätte es getan. Ich habe es meinem Vater 2005 auf einem Spaziergang versprochen, ihm, wenn es keinen anderen Weg gäbe, zu helfen. Ich habe mir das, wovon ich hier nicht sprechen werde, oft und sehr konkret vorgestellt. Die Szenerie hat mich bis in die Träume hin beschäftigt. Nach Neujahr 2007 fühlte ich mich von meinem Wort entbunden.
Ein Happy End? Leider keineswegs. Denn mein Vater hat nicht nur ein Buch und viele Statements zum Thema Sterbehilfe verfasst. Er hat auch – und dies sogar beim Notar – eine Vorsorgevollmacht und eine Patientenverfügung hinterlegt. Genutzt hat ihm das wenig. Und das ist die bittere Pointe.
Die großen ideologischen Debatten sind das eine: Wem gehört der Tod, was ist selbstbestimmtes, würdiges, ja: gutes Sterben? Und wer hat darüber zu wachen? Alles elementare Fragen! Der Teufel aber steckt im Detail. Mein Vater, da war ich mir sicher, hatte alles geregelt, wenn auch in letzter Minute. Im August 2006 hat er, schon lang nicht mehr im Vollbesitz seiner Kräfte, auf inständiges Drängen meiner Mutter, eine Erklärung über seine »Werte, Wünsche und Hoffnungen« abgegeben, in der fixiert ist, dass er ärztlichen Beistand nur erbittet, »solange eine Aussicht auf Heilung besteht oder eine Behandlung möglich ist, die mir Lebensfreude und Lebensqualität erhält«. Er hat sich jeglichen Anschluss an die Apparatemedizin explizit verbeten, »wenn ich länger als sechs Wochen geistig so verwirrt bin, dass ich nicht mehr weiß, wer oder wo ich bin«. Sollte dieser Fall eintreten, »dann verlange ich, dass alle medizinischen Maßnahmen unterbleiben, die mich am Sterben hindern«. Ein Jahr später schon konnte er seinen Namen nicht mehr schreiben.
Alles war geregelt. War es das wirklich? Im Sommer 2007 – meine Mutter war nach einer komplizierten Hüft-OP in der Kur – stürzt er nachts die Treppe herunter. Mit schweren Kopfverletzungen wird er auf Betreiben, auf Alarmruf seiner Pflegerin in die Neurologie transportiert. In seiner Patientenverfügung hatte er sich jegliche freiheitsberaubenden Maßnahmen verbeten. Nun aber wird er ans Intensivbett gefesselt. Er reißt sich die Schläuche heraus. Sein damaliger Hausarzt, der in die Klinik eilt, sagt mir: »So wollte Ihr Vater niemals leben. So wollte er niemals sterben.« Nach dreißig Stunden hat der Arzt mithilfe des Anwalts meinen Vater dann wieder freigekriegt. Er wurde entfesselt. Aber möglicherweise hätte er schon damals sterben dürfen. Ich gebe sofort zu, das ist ein Grenzfall, da war es schwierig, richtig zu handeln. Was zählt mehr: die akute Unfallversorgung oder der Wille eines ja irreversibel Erkrankten?
Von den Folgen des Sturzes hat er sich nie wieder wirklich erholt. Und die Demenz schritt mit großer Macht voran: Er konnte sich kaum noch artikulieren. Aber ein Stück Lebensqualität, das schützenswert ist, schien ihm geblieben. Gewiss: Mein Vater war nun ein ziemlich anderer. Schriftsteller, Denker und Rhetor ade! Im Winter 2008/2009 habe ich diesen Veränderungsprozess, der Abschied und Aufbruch zugleich war, am Ende meines Demenz-Buches beschrieben:
»Der Vater, den ich kannte, der ist lang schon gegangen. Der Abschied […] war bitter und hat wehgetan. Aber jetzt, da er fort ist, habe ich einen ganz anderen Vater entdeckt, einen kreatürlichen Vater – einen Vater, der einfach nur lacht, wenn er mich sieht, der sehr viel weint und sich Minuten später über ein Stück Kuchen, ein Glas Kirschsaft freuen kann. Was war das für eine Feier, am 8. März 2008, als er 85 wurde. Bei früheren Wiegenfesten wurden Reden geschwungen, Professoren-Kollegen zitierten griechische Verse und überreichten Sonderdrucke. Jetzt rücken die Freunde mit Fresskörben an, gewaltigen Schinken, Pralinen, Schokoladenhasen und reichlich selbstbemalten Ostereiern. Vierzig Gäste freuen sich an M.s [das ist die Pflegerin] Schinkenhörnchen. Und mittendrin mein rundum heiterer Vater.
Und wenn er nicht gerade Geburtstag hat, dann macht er nachmittags mit seiner Betreuerin und ihrem Freund eine kleine Landpartie, zu M.s Bauernhof. Einmal, November 2008, haben sie mich mitgenommen. Er ist gut beieinander. Hier kennt er sich aus. Caro, der Wachhund, bellt zur Begrüßung. Für Momente ist er so klar, wie ich ihn seit einem Jahr nicht erlebt habe. Tja, Tilman, jetzt bist du woanders. Wann hat er mich das letzte Mal beim Namen genannt? Er zeigt auf das Ende des Stalls. Ich solle mitkommen. Da sind die Kaninchen. Er ist aufgeregt wie ein Kind. Er nimmt sich Grün und ein paar Karotten. Ich traue meinen Augen nicht. Mein Vater füttert Karnickel! Er, der Asthmatiker, der früher Tiere hasste – und mir aus Angst vor Haaren die Anschaffung selbst eines Hamsters verbot.
Wir sitzen am Tisch der guten Stube. Die Stallburschen erwarten ihn schon. Jetzt kommt der Walter. Eine Großfamilie bei Kaffee und gelbem Sprudel. Auf dem Fenstersims liegt eine Fibel für Schulanfänger. Das Leben auf dem Bauernhof. Mein Vater lernt lesen. Was ist das? Das ist ein Pferd. Er hat Spaß, nimmt die Limo-Flasche. Er versucht das Etikett mit den gelben Buchstaben zu entziffern. Er strengt sich an. O-ran-gen… das Wort Limonade schafft er nicht mehr. Ich möchte weinen. Er aber fühlt sich wohl. Was an M., aber auch an dem vielen Spielzeug, den Malbüchern, der bunten Kinderknete liegt, die sie ihm vom Dachboden geholt hat. Mein Vater geht ins Nebenzimmer. Als er zurückkommt, hat er eine große Puppe im Arm. Er hält sie ganz vorsichtig, wiegt sie. Das Plastikbaby sagt Mama.
Als er zurück ist in Tübingen, wird er meiner Mutter erzählen: Caro ist der beste …«
Doch die fast schon idyllische Momentaufnahme ist trügerisch. Denn als sie entstand, hatte mein Vater noch beinahe fünf Jahre zu leben. Und diese Jahre, vor allem die letzten drei, waren grausam. Er verstummte vollends. Er verlernte das Gehen. Er saß hilf- und orientierungslos im Rollstuhl. Er hatte schmerzende Wunden, die ihn plagten. Er verfiel mehr und mehr und war letztlich sterbenskrank. Konkret erinnere ich mich an vier Lungenentzündungen. Sie wurden mit Antibiotika niedergekämpft. Er durfte einfach nicht sterben. Ein Zeh starb ihm ab. Er wurde ins Krankenhaus verfrachtet. Der böse Zeh wurde amputiert. Auskunft der Ärzte: sonst drohe eine Sepsis und man müsse gar das ganze Bein amputieren.
Ich denke, wenn wir hier in diesen drei Tagen die Ethik der letzten Dinge verhandeln und diskutieren, wie denn ein gutes Sterben ausschauen könne, dann gibt uns das traurige Ende meines Vaters, der systematische Verstoß gegen seine Patientenverfügung, zu denken. Ja, gewiss, einiges mag speziell sein an diesem Fall. Mein Vater hatte, ich habe es ja angedeutet, zunächst das große Glück einer privaten Pflegerin. Eine Bäuerin von der Schwäbischen Alb. Die ökonomischen Möglichkeiten waren, dank der Thomas-Mann-Bücher meiner Eltern, vorhanden. M., die Pflegerin, wurde schon bald quasi rund um die Uhr eingestellt. Mit ihrem Lebensgefährten hat sie ihn versorgt. Das war am Anfang auch ganz wunderbar. Die Situation auf dem Bauernhof hatte viel Großes. Aber natürlich ließ sich die Erfüllung des Anfangs nicht halten. Er wurde schwach und schwächer – und die Pflegerin, so war mein Eindruck, hatte mittlerweile nicht mehr immer die nötige professionelle Distanz. Vielleicht wollte sie den ihr anvertrauten Mann auch nicht loslassen. Dazu kam vermutlich der ökonomische Aspekt. Sie wurde nicht eben schlecht bezahlt, hat immer wieder Nachschläge erhalten, wohl auch erbeten. Ich nehme ihr das nur bedingt übel. Aber das ist schon ein großes Problem. Ganz so, wie ich es in meinem Buch geschildert habe – hier der Horror des Heimes und dort der Segen der Privatpflege –, ganz so sehe ich das nicht mehr.
Das Nicht-loslassen-Können führte zu kuriosen, aber letztlich bitteren Szenen. Diese Bäuerin, eine vitale Frau, hatte mit der letzten Ärztin meines Vaters – die Ärzte wurden getauscht – ein recht inniges Verhältnis, was sich zum Beispiel darin äußerte, dass sie die Ärztin mit frischen Eiern von ihrem Hof belieferte und im Gegenzug vorsorglich ausgestellte Rezepte für Antibiotika bekam. Die hat ihm, und das hat die Pflegerin in einem Interview mit Focus ausdrücklich bestätigt, über Jahre Antibiotika »ins Essen geschummelt«. Er durfte nicht sterben.
Der Fall meines Vaters mag speziell sein – aber er hat, wie ich denke, auch viel Allgemeingültiges. Meiner Mutter ist gewiss kein Vorwurf zu machen. Sie selbst hat unter der Situation gelitten, aber sie war natürlich überfordert. Man stelle sich das vor: Da kriegt der Mann Fieber, du merkst: Eine Lungenentzündung ist im Anmarsch. Und sagst dir: Der Mann, mit dem ich sechzig Jahre verheiratet bin, wenn ich ihm jetzt die Drops gebe, dann lebt er weiter. Dann wacht er auf. Sonst stirbt er, möglicherweise mit Schmerzen. Und Sterben ist niemals schön, versteht sich. Was soll ich tun? Soll ich ihm jetzt die Dinger verweigern, von denen die Ärztin sagt, es lindere letztlich nur seine Beschwerden?
Ich denke, da lastet viel, viel zu viel, Entscheidung auf den Angehörigen. Das müssen Teams bewerkstelligen. Wenn schon Patientenverfügungen – klar, sind sie wichtig, aber sie reichen nicht aus! –, dann müssten sie vermutlich mit Teams, mit Freunden, mit Kollegen, mit Ombudsleuten besprochen werden, die dann, wenn es ernst wird, mit in den Sterbeprozess einzubinden sind. Dem Nächsten allein ist die – oft rasch zu treffende Entscheidung – kaum zuzumuten.
Ich habe mich, weil ich gerade an einem Buchprojekt über das Thema arbeite, in vielen Pflegeeinrichtungen umgehört, und immer wieder wird mir bestätigt: Es gibt ungemein viele Angehörige, die in ihrer Not anfangen, am Leben des Todgeweihten zu klammern. Die nicht loslassen können, die hilflos um sich schlagen und die Ärzte unter Druck setzen. Irgendwas müssen Sie jetzt bitte tun, sonst zeige ich Sie an. Die sich die Lage nach ihrem Gusto zurechtbiegen: Also, als er das abgefasst hat, da war er in einem ganz anderen Zustand. Er hat sich das eben nicht recht vorstellen können. In der vorliegenden Verfügung ist gerade dieser nun vorliegende Sonderfall nicht geregelt. – Mein Vater etwa hatte sich die lebensverlängernde Gabe von Antibiotika nicht ausdrücklich verbeten.
Was folgt daraus? Gewiss die Erkenntnis, dass Patientenverfügungen so präzise wie möglich abzufassen sind. Multiple Choice reicht nicht. Aber das ist eine Binse. Natürlich lässt sich das perfektionieren. Man kann sagen, Antibiotika nicht. Man kann einschlägige Formulierungshilfen bei Wolfgang Putz nachlesen. Es gibt da sicher sehr präzise, sehr, sehr gute Textvorschläge. Aber ich denke, damit allein ist es nicht getan. Wir brauchen weit mehr. Wir können das Problem des Sterbens – und das ist meine ganz persönliche Erfahrung – nicht vorrangig an Pfleger, an Ärzte, an Sterbehelfer, an Gottesmänner oder gar an den Gesetzgeber delegieren. Die benötigen wir auch – aber alleine werden sie es kaum richten. Was nottut, ist das freimütige Gespräch in den Ehen, in den Familien, in den Patchwork-Beziehungsgeflechten. Patientenverfügung schön und gut. Aber die wurde auch in unserer diskursfreudigen Familie flugs zu den Akten gelegt und im heimischen Tresor verwahrt. Ich denke, letztlich wussten auch wir nicht, was mein Vater im Endeffekt – konkret: im Sterbebett, nicht am Katheder – wirklich wollte. Er hat gesagt, ich will, wenn das und das geschieht, tot sein. Er hat gesagt, wenn ich im Rollstuhl säße, will ich nicht mehr weiterleben. Auch wenn ich inkontinent werde … Aber wie ernst er das meinte, wussten wir nicht. Das ist ja auch schwierig.
Mir fällt da immer eine Geschichte ein. Ich hatte das große Glück, mit dem grandiosen Zeichner Horst Janssen recht gut bekannt gewesen zu sein. Janssen stürzte eines Tages, da war er schon weit über sechzig, von seinem morschen Balkon mit Säure – er hatte gerade Radierungen angefertigt – hinunter. Die Säure kam ihm in die Augen. Er konnte nichts mehr sehen. Er kam ins Krankenhaus, wurde gelasert, konnte dann wieder etwas sehen. Nicht ganz so viel wie früher, aber doch noch ausreichend, um weiterzuleben. Um weiter zu zeichnen. Wenige Wochen später hat er mir in einem Fernsehinterview gesagt: »Weißt du, vor dem Unfall hatte ich keinen Zweifel: Wenn ich blind bin, dann will ich nicht mehr leben. Aber als ich da nun auf einmal unten lag, war ich mir meiner Sache auf einmal nicht mehr so sicher.«
Aber eben weil »diese Sache«, um mit Horst Janssen zu sprechen, so komplex und vielschichtig daherkommt, ist zu Lebzeiten ein ebenso genauer wie ungemütlicher Diskurs über das Sterben vonnöten. Es bedarf, das mag auf den ersten Blick banal klingen, einer ganz neuen Gesprächskultur zwischen den Nächsten. Ich bin vor zwei Jahren – ich wollte einmal unbedingt auf der Route der alten Emigranten mit einem Schiff von Europa nach Amerika übersetzen – allein auf einem Ozeandampfer von Rom über Lissabon nach New York gefahren. Die Tour dauerte zwölf Tage. Da sah ich nun all die alteingespielten Paare einander gegenübersitzen, die kaum ein Wort miteinander wechselten. Ich bin sicher, die haben auch nie über die Umstände ihres eigenen Sterbens gesprochen. Das dürfte sich in nicht allzu weiter Zukunft rächen.
Wenn wir die Qualität des Sterbens verbessern wollen, müssen wir so viel wie möglich über die Wünsche und Werte unseres Nächsten wissen. Wir müssen Neugier entwickeln für die letzten Dinge. Und das nicht nur, wenn das Ende der Tage in Reichweite ist. Eine Patientenverfügung ist da allenfalls ein zarter Anfang. Wie wäre es zum Beispiel, das Eheversprechen »bis dass der Tod euch scheide« ungewohnt wörtlich zu nehmen? Als Ermunterung zu einem existentiellen, intimen und immer wieder neu zu beginnenden Gespräch: Wie willst du, wie wollen wir sterben?

1 Vortrag auf der Tagung »Von der Hilfe zur Beihilfe. Sterbebegleitung im Kontext der Debatte um den assistierten Suizid« (26. Medizin-Theologie-Symposium der Evangelischen Akademie Tutzing 23.–25.01.2015), gehalten am 25. Januar 2015 in der Evangelischen Akademie Tutzing
2 Walter Jens, in: Jens/Küng: Menschenwürdig sterben. Ein Plädoyer für Selbstverantwortung, München: Piper, 1995

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