02. Okt 2022

„Jetzt liegt er hinter einem Zaun“

Beitrag in der WELT AM SONNTAG von Frédéric Schwilden

Helmut Kohl ist in Speyer begraben. Was tut sich an seinem Grab vor dem 3. Oktober? Zu Besuch an einem umstrittenen Ort.

Der Reiher landet inmitten des Teichs. Er stakst durch das Wasser auf der Suche nach Fischen. Ein Obdachloser schläft auf einer Bank versteckt von Hagebutten. Dahinter liegt Helmut Kohl in seinem Grab – im Adenauer-Park zu Speyer. Ansonsten sind da nur ein paar Bäume, ein Spielplatz und ein Toilettenhäuschen.

Das Grab von Helmut Kohl ist eingezäunt. Modell Doppelstabmattenzaun aus Eisen. Bei Obi hat dieser Zaun 94 Prozent positive Bewertungen. Wie man der Lokalpresse entnehmen kann, ist der Zaun Auslöser eines Streits in Speyer. Die Bürgermeisterin würde ihn gern entfernen lassen. Aber Kohls Witwe nicht. Man sei ohne Ergebnisse aus Gesprächen herausgegangen, heißt es in einem der vielen Artikel über diesen Zaun. An einem Vierkantholz befestigt im Gestrüpp hinter dem Grab ist eine „Nuss-Bar“. Das ist ein Kasten aus gelb lackiertem Holz mit einem roten Klappdach. An der Seite sind Blumen aufgemalt. Und vorn ist eine Plexiglasscheibe. Vier Walnüsse liegen in diesem Kasten hinter dem Plexiglas. Für wen, ist unklar. Ob Helmut Kohl Walnüsse gemocht hat, kann anhand der Quellenlage nicht verifiziert werden. Überliefert ist nur seine Vorliebe für Pfälzer Wein – „Ich bin Riesling-Fanatiker“, sagte er Alfred Biolek. Am Zaun vor dem Grab hängen verrottete Bändel und Schilder, die auf eine Kameraüberwachung der Grabstätte hinweisen. In einem der Bäume hinter dem Grab hängt ein Gerät, das wahrscheinlich eine Kamera ist. Zwei Männer, die auf der Durchreise sind und einen kurzen Abstecher zum Grab machen, erzählen, sie hätten in der Zeitung gelesen, dass Kohls Witwe einen Livestream der Kamera ins Oggersheimer Wohnzimmer hätte. „Was für ein Weltpolitiker“, sagt einer der beiden, „und jetzt liegt er hier hinter einem Gartenzaun.“ Das Kreuz empfinden beide eher als „Provisorium“. Dabei wurde Helmut Kohl schon vor fünf Jahren beerdigt. Die Grabgestaltung obliege Helmut Kohls Witwe Maike, kann man einem Statement der Speyerer Bürgermeisterin entnehmen. Die Bürgermeisterin habe die Witwe auch um eine „zeitnahe Herstellung des finalen Grabzustandes gebeten“, heißt es in einer Zeitung aus Ludwigshafen. Das war im März.

Es herrscht große Einigkeit darüber, dass Helmut Kohl ein großer Politiker gewesen ist. Zerstritten ist dieses Land allerdings in der Bewertung seiner letzten Ruhestätte. Die Google-Rezensionen seiner Grabstätte gehen stark auseinander. So gibt Nutzer Envyno beispielsweise vier von fünf Sternen und schreibt: „Die Toiletten vor Ort sind halt schlicht und einfach. Für das schnelle Geschäft aber vollkommen in Ordnung.“ S. Richard hingegen gibt nur zwei von fünf Sternen. Er findet: „Die Umzäunung der Grabstätte mit einem billigen, schmucklosen Baumarkt-Zaun ist dem Andenken des großen Europäers und langjährigen Bundeskanzlers Dr. Helmut Kohl unwürdig.“ Der Park um das Grab herum ist der Lieblingspark der freundlichen Russlanddeutschen, die heute Blumen und Entengrütze fotografiert. Sie komme oft hierher, sagt sie. Genau wie die nette Frau aus China, die seit 1990 in Berlin lebt. „Darf man sein Grab fotografieren?“, fragt sie zögerlich, bevor sie ein Foto macht. Und dann reden wir über Kohl und ihre Ankunft in Deutschland. Die Schlagwörter in Kürze: „Kulturschock“, „Mauer“. „Da gab es kein Internet“, sagt sie. Helmut Kohl wurde zu dieser Zeit Vater der Einheit. Seine politische Tochter, Angela Merkel, wurde Jahre später zur Mutti Deutschlands. So erinnern wir uns an diese Personen. Bei Kohl fallen einem tausend Dinge ein. Seine Tiraden auf den „Spiegel“. Oder wie er 1991 mit Eiern beworfen wurde, die Bodyguards ihn nicht halten konnten, und er selbst auf die Angreifer zustürmte. Oder wie er gelacht hat, als der betrunkene Boris Jelzin beim Abzug der russischen Truppen aus Berlin ein Polizeiorchester dirigierte. Kohl war Mensch und schon zu Lebzeiten sein eigenes Denkmal.

Über Helmut Kohl wurden viele Witze gemacht. Wir erinnern uns an den Ausdruck „Birne“ und an das Lied „Helmut K.“ von der Band „Die Ärzte“. Aber das hat sich gedreht. Sogar Künstler würdigen Kohl inzwischen. In seinem Roman „Die Geschichte eines einfachen Mannes“ schreibt Timon Karl Kaleyta autofiktional über einen jungen Mann, einen „Narren“, wie der Autor heute sagt, der bei der Abwahl Kohls sehr traurig war. Heute sagt Kaleyta: „Rückblickend wäre diesem Land wohl sehr viel persönliches und politisches Elend erspart geblieben, hätte Kohl 1998 die Wahl noch einmal gewonnen. Und hätte er danach einfach bis zum letzten Atemzug weitergemacht.“

Im vergangenen Jahr wurde durch ein Gesetz die Gründung der Bundeskanzler- Helmut-Kohl-Stiftung im Bundestag beschlossen. Bis auf die AfD stimmten alle Parteien zu. Diese Woche fand die erste Veranstaltung der Stiftung statt. Angela Merkel sprach dort, auch Friedrich Merz. Helmut Kohls Witwe Maike war nicht da. In einem Schreiben, das sie auf ihrer Homepage veröffentlichte, droht die „Alleinerbin“, wie sie sich dort nennt, mit einer Klage gegen die Stiftung. Die Stiftung, so die Witwe weiter, verletze die „postmortalen Rechte“ Helmut Kohls. „Auch ein langjähriger Bundeskanzler wird nicht qua Amt und Lebenswerk vom selbstbestimmten Subjekt zum frei verfügbaren Objekt staatlicher Gewalt“, schreibt sie. Bundeskanzler Helmut Kohl ist kein frei verfügbares Objekt. Aber die Erinnerung an ihn gehört uns allen. Auch ein Zaun kann daran nichts ändern.