23. Mai 2024

Lesung am 23. Mai 2024 in der Kölner Karl Rahner Akademie: 

Herzlich willkommen, meine sehr verehrten Damen und Herren. 
Herzlich willkommen, liebe Freundinnen und Freunde aus nah und fern.
Willkommen zu einer hoffentlich spannenden Geschichtsstunde. 

In der Nacht zum 21. Februar 2024 erlitt ich einen Herzinfarkt. Das Leben rettete mir schließlich Dr. Amir Nina, stellvertretender Leiter der Kardiologie im Kölner Antonius-Krankenhaus. Herzlich willkommen! 

Lieber Herr Nia, ohne Ihr beherztes und kompetentes Eingreifen würde ich hier heute nicht sitzen. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Willkommen auch die Kardiologen Dr. Fotini Dodos und ihr Mann und Dr. Martin Diekmann. Herzlich willkommen! Es berührt mich sehr, dass sie meiner Einladung gefolgt sind. 

Im Jahr 1949 verwandelten sich die vier Besatzungszonen in Deutschland in zwei neue Staaten. Am 23. Mai 1949 - genau heute vor 75 Jahren - gründete sich mit der Verabschiedung des „Grundgesetzes“ im Parlamentarischen Rat und der Ratifizierung durch die Alliierten auf dem Gebiet der amerikanischen, britischen und französischen Besatzungszonen die Bundesrepublik Deutschland. 

 Gut vier Monate später, am 7. Oktober 1949, verabschiedete der Volksrat, ein politisches Gremium auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone, einen eigenen Verfassungsentwurf. Damit gründete sich die Deutsche Demokratische Republik als weiterer deutscher Staat. 

75 Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik und der DDR und 35 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer habe ich mich in meinem neuen Buch um einen besonderen Blick auf die beiden deutschen Staaten bemüht. Mir ging es um  die DDR-Auslandsspionage seit den Fünfzigerjahren bis zum Ende der DDR 1989 gegen die Bundesrepublik, genauer gegen Bonn. Konkret standen neben den Spitzenpolitikern der Bonner Republik, den Kanzlern und Ministern, auch  die Bundespräsidenten im Fadenkreuz der Ost-Berliner Spionage.  

Mit welchen Mitteln und Methoden spioniert wurde, hat das Ministerium für Staatssicherheit penibel archiviert und steht im bisherigen Stasi-Unterlagen-Archiv, das mittlerweile vom Bundesarchiv übernommen wurde, allen Forschern zur Verfügung. 

Die berühmt-berüchtigte Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) unter dem legendären HVA-Chef Generaloberst Markus Wolf war unter anderem darauf ausgerichtet, „den Feind, sprich Bundesrepublik und ihr Personal bzw. einzelne feindliche Kräfte und Institutionen zu entlarven, zu kompromittieren bzw. zu desorganisieren und zu zersetzen“, wie es wörtlich hieß. Gleichzeitig zielten die mit den Begriffen „Aktive Maßnahmen/Desinformation“ umschriebenen Aktivitäten darauf ab, „den Staat Bundesrepublik Deutschland als solchen, seine Regierungen, führende politische Gruppierungen und Persönlichkeiten bloßzustellen und zu diffamieren“ . 

Meine Recherchen belegen, wie die DDR-Staatssicherheit keine Kosten und Mühen scheute, um die politische Elite der Bundesrepublik auszuspähen – von den Kanzlern und ihren Ministern von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl -  und wenn es ihrer Sache diente,  nicht vor plumpen Fälschungen zurückschreckte. 

In diesen Tagen vor 50 Jahren wurde der Kanzler-Spion Günter Guillaume enttarnt und verhaftet. Kurze Zeit später trat Bundeskanzler Willy Brandt zurück. Eine der spektakulärsten Spionagefälle in der Geschichte beider deutscher Staaten. 

Weniger spektakulär verlief die Spionage gegen die höchsten Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland, gegen die Bundespräsidenten von 1949 bis 1989. Doch auch sie standen von Anfang an unter der besonderen Beobachtung des DDR-Geheimdienstes.  

Am ersten Bundespräsidenten von 1949 bis 1959 Theodor Heuss von der FDP schienen die Spione aus Ost-Berlin zunächst nur  geringes Interesse zu haben. Seine Vita bot keinerlei Anhaltspunkte für Verstrickungen in der Zeit des Nationalsozialismus.  Doch in der nur 110 Blatt umfassenden Stasi-Akte des ersten Bundespräsidenten aus dem heutigen Bundesarchiv befand sich brisantes Material, was offenbar bisher noch kein Forscher, Journalist oder Historiker zu Gesicht bekommen hatte. Damit hätte das gerade im Aufbau befindliche Ost-Berliner Ministerium für Staatssicherheit zusammen mit der regierungsamtlichen SED-Propagandaabteilung die Wahl von Theodor Heuss zum Bundespräsidenten 1949 verhindern können, hätten sie das zu diesem Zeitpunkt schon gewußt. Die Gründe dafür lesen sich wie ein guter Krimi:  Kein Geringerer als der ehemalige FDP-Bundesvorsitzende und erste Bundespräsident Theodor Heuss war Initiator und Auftraggeber für eine klug angelegte Spionage in der SBZ, der sowjetischen Besatzungszone, und späteren DDR. Dieser Spionagethriller begann am 20. September 1950 mit der Verhaftung des stellvertretenden Vorsitzenden der West-Berliner FDP William Borm. Nach einem fast zweijährigen Ermittlungsverfahren wurde William Borm vom Landgericht Greifswald im Juli 1952 zu zehn Jahren Strafhaft verurteilt. Dieses strafrechtliche Ermittlungsverfahren des Ministeriums für Staatssicherheit ist in der Stasi-Akte von Theodor Heuss komplett dokumentiert. Es sind insgesamt 70 eng beschriebene Seiten, von denen jedes einzelne Blatt von William Borm mit dem Vermerk „selbst gelesen, genehmigt, unterschrieben“ abgezeichnet worden war. Borm war geständig, gab sich außerordentlich auskunftsbereit und informierte umfassend bis ins kleinste Detail, wie es nach welchen Kriterien zur Spionage in der SBZ und späteren DDR für die FDP-Spitze in Bonn gekommen war. Auf diesen Vernehmungen mit dem umfassenden Geständnis William Borms basiert die Geschichte der von der Bonner FDP-Spitze um Theodor Heuss initiierten, konzipierten und finanzierten Spionagetätigkeit in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und späteren DDR.  Begonnen hatte alles mit dem Aufbau einer illegalen Spionageorganisation bei Jugendlichen in der sowjetischen Besatzungszone. Besonders starke Stützpunkte sollen sich an den Universitäten Halle, Jena und Rostock gebildet haben. Aber auch in den ehemaligen Betrieben des Siemens Konzerns in der SBZ gab es Informations- und Spionagequellen. Sie alle arbeiteten nach drei Fragebögen, die Angaben über die durchzuführende Spionagetätigkeit nach drei Gesichtspunkten enthielten: 

  1. militärische Spionage:  Truppenbewegungen auf Schienen und Straßen, Art der Fahrzeuge, Art der Waffen, Stärke der Formationen. 
  1. wirtschaftliche Spionage: Art der Fabrikation und Lieferung, Reparationsleistungen, unmittelbare oder mittelbare Rüstungsindustrie, personelle Besetzung der Schlüsselstellungen. 
  1. politische Spionage: Politische Haltung und Stimmung der Bevölkerung, Überwachung der Partei- und Massenorganisationen. 

Verfasser dieser Fragebögen sei Theodor Heuss gewesen. Im Laufe der Vernehmungen informierte Borm darüber, wie die Spionageaufträge durchgeführt wurden und wie das Material über West-Berlin in die FDP-Zentrale und damit zu Theodor Heuss kam. Heuss soll nach Sichtung des Spionagematerials dieses Material an die maßgeblichen Kreise und Spionagezentren der Westalliierten sowie der Rheinisch-Westfälischen Schwerindustrie übergeben haben. Nach Einschätzung von Borm hatte Heuss persönliche Bindungen zu den Hohen Kommissaren der Alliierten. Wiederholt steht in den Vernehmungsprotokollen, dass sämtliche Anweisungen zur Spionage von Heuss selbst ausgearbeitet wurden und in Form von Fragebögen an die einzelnen Stützpunkte durch Mittelsmänner herausgegeben wurden. Auf mehrmaliges Befragen sagte William Borm wörtlich, „dass der Bundespräsident Heuss von Borms  Spionagetätigkeit wusste und dies billigte“. Nach Borms per Unterschrift beglaubigten Überzeugungen gelangte das gesamte Spionagematerial auch im ersten Amtsjahr des Bundespräsidenten auf dessen Schreibtisch. Auch seine Weitergabe an die Vertreter der Alliierten auf dem Petersberg bei Bonn soll weiterhin erfolgt sein. 

All das bot der DDR-Auslandsspionage viel Stoff, um gegen die Bundesrepublik Deutschland und ihren höchsten Repräsentanten Theodor Heuss mit sogenannten „aktiven Maßnahmen“ vorzugehen. Doch die Ost-Berliner Geheimdienstzentrale verzichtete darauf, den FDP-Bundesvorsitzenden und späteren Bundespräsidenten Theodor Heuss als Initiator, Ideengeber und Mit-Finanzierer eines Spionagenetzes in der SBZ und späteren DDR mit gezielten Aktionen in der Bundesrepublik an den Pranger zu stellen. Spätestens vor seiner Wiederwahl zum Bundespräsidenten 1954 hätten lancierte Informationen über diese Tätigkeit eine zweite Amtszeit in Bonn eindeutig verhindert. 

Schließlich gab es inHeuss´ Vita vor 1945 doch noch einen ganz besonderen dunklen Fleck, der Politikern in vergleichbaren Fällen vom DDR-Geheimdienst angelastet  worden wäre. So stimmte Theodor Heuss als Reichstagsabgeordneter der „Deutschen Staatspartei“ am 23. März 1933 dem Ermächtigungsgesetz zu. Dieses Ermächtigungsgesetz bildete 1933 die Grundlage für die Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur unter Adolf Hitler. Theodor Heuss selbst empfand sein damaliges Abstimmungsverhalten nach 1945 selbst als Belastung in seiner Biografie. Die Zustimmung des deutschen Staatsoberhauptes zum Ermächtigungsgesetz hätte zu einer riesigen Propagandaaktion des DDR-Geheimdienstes führen können. Kein Wort darüber in Heuss` zerfledderter Stasi-Akte. Oder wurde sie gar „bereinigt“? 

(Bemerkenswert auch, wie die amerikanische Besatzungsmacht mit diesem Thema umging. Die Amerikaner unterstützten Heuss´ Rückkehr auf die politische Bühne nach 1945 kräftig. Ein amerikanischer Historiker behauptet sogar, es habe eine enge Verbindung zwischen Heuss  und dem amerikanischen Geheimdienst gegeben. Der Wissenschaftler kommt schließlich zu dem Ergebnis, Heuss´ Zusammenarbeit mit der amerikanischen Besatzungsmacht habe ihn in sein Amt gebracht. Ohne deren massiven Einsatz wäre Theodor Heuss kaum Bundespräsident  geworden.) 

Mary-Castle Jazzband 

Herzlich willkommen auch Ecki Seeber aus Ludwigshafen. Ecki Seeber, der langjährige Fahrer, Organisator und Sicherheitsmann von Helmut Kohl, der auf üble Weise aufs Altenteil geschickt wurde.  

Hilde und Ecki Seeber waren über Monate meine Herbergseltern in jener Zeit, als ich die vielen Interviews mit Helmut Kohl machte. 

Freue mich, auch  Dieter Lorenz aus Hannover begrüßen zu können. Für sein Unternehmen und seine Freunde hat Dieter Lorenz gleich schon mal 50 Exemplare geordert. Dieser Freund sorgt für Umsatz. Vielen Dank. 

Aus Mainz ist Karl Otto Armbrüster angereist, ein Freund aus der Studentenzeit. Übrigens in Mainz Präsident der Prinzengarde. Herzlich willkommen! 

Nachfolger von Bundespräsident Theodor Heuss wurde der ehemalige Bonner Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, der CDU Bundestagsabgeordnete Heinrich Lübke, Bundespräsident von 1959 bis 1969. 

Für den Ost-Berliner Geheimdienst mit Minister Erich Mielke an der Spitze und für die SED-Propagandaabteilung unter ihrem Leiter Albert Norden war Lübke  eine ganz neue Zielscheibe für Desinformation und Agitation. Wie bei allen Bonner Persönlichkeiten aus der Politik wurde  der Lebenslauf auch von Heinrich Lübke intensiv durchleuchtet. Immer auf der Suche nach Verfehlungen und vor allem nach Verstrickungen in die Verbrechen des Dritten Reiches gab es Archivrecherchen großen Ausmaßes. Im Gegensatz zu anderen Bonner Politikern konnte bei Lübke eine NSDAP-Mitgliedschaft oder in einer ihrer Unterorganisationen nicht gefunden werden. Minutiös wurde Lübkes Kriegsteilnahme am Ersten Weltkrieg nachgezeichnet. In Heinrich Lübkes Stasi-Akte befindet sich außerdem unter dem Titel „Heinrich Lübke - ein Porträt ohne Schminke“ ein Meisterwerk der Agitation. Es ist ein Machwerk aus einer Mischung zutreffender Fakten, Halbwahrheiten und irreführender Desinformation. Unterdessen hatten die Stasi-Rechercheure herausgefunden, dass Lübke während des Krieges verantwortlicher Mitarbeiter der „Baugruppe Schlempp“ in der nationalsozialistischen V-Waffenschmiede Peenemünde war. Auf einer großen internationalen Pressekonferenz einen Tag vor der Wiederwahl Lübkes zum Bundespräsidenten  1964 präsentierte der SED-Chefpropagandist Albert Norden auf großer Bühne in Ost-Berlin Dokumente, die Lübke wegen seiner Tätigkeit im Nationalsozialismus bloßstellen sollten. 

Präsentiert wurden Pläne für den Bau des Konzentrationslagers Neu-Staßfurt - versehen mit der Unterschrift Heinrich Lübkes, außerdem der Bauplan selbigen Lagers, ebenfalls mit der Unterschrift Heinrich Lübkes oder ein Bauplan für die SS-Baracken mit Lübkes Unterschrift. Es folgt der Bauplan des Lagers für Zwangsarbeiter und „jüdische Mischlinge“ in Wolmirsleben – alle versehen mit der Unterschrift Heinrich Lübkes. Ob diese Unterschriften echt oder gefälscht sind, lässt sich nicht mehr klären. 

Ein ehemaliger gewiefter Experte für Desinformation und hauptamtlicher Mitarbeiter des Ost-Berliner Geheimdienstes und Kronzeuge solcher Machenschaften schrieb in seinen Erinnerungen nach dem Mauerfall: „Über Lübke fanden sich im Archiv Akten, die seine Tätigkeit in einer Baugruppe namens Schlempp während der Nazizeit dokumentierten. Es gab auch Baupläne für Baracken; aber dass diese für Gefangene in Konzentrationslagern gedacht waren, ging aus den Zeichnungen nicht hervor, auch aus jenen nicht, an denen Lübke mitgearbeitet hatte. So konnte nur unterstellt werden, dass er von der späteren Nutzung wusste. Beweisen ließ sich diese Behauptung aufgrund der Akten jedoch nicht. Also ergänzten wir das vorliegende Material, so dass es zweifelsfrei „bewies“, was wir beweisen wollten: dass Bundespräsident Lübke dereinst gebaut hatte an den KZs der Nazis“. 

So entstand bei den Propagandaaktionen der SED und des Ministeriums für Staatssicherheit fälschlicherweise die Unterstellung, Heinrich Lübke sei „KZ Baumeister“ gewesen. Lübkes  Korrespondenz im Auftrag der „Baugruppe Schlempp“ ist in seiner Stasi-Akte umfassend belegt. Gleichwohl war der spätere Bundespräsident kein „KZ Baumeister“. Er hatte aber Kenntnis vom Umgang mit KZ-Häftlingen, erlebte ihre menschenunwürdige Behandlung, ihre erbärmliche Unterkünfte, ihre mangelnde Versorgung und ihre fehlende ärztliche Betreuung, ihr unwürdiges Leben, ihre Ausbeutung bis zur Erschöpfung und schließlich bis zum Tod. Das alles war Heinrich Lübke über Jahre bekannt. Er aber schwieg darüber, bis zu seinem Tod 1972.  

Lübkes Biografen und einflussreiche Publizisten haben sich zu keiner Zeit die Mühe gemacht, unabhängig von den Ost-Berliner Propagandaaktionen eigene Recherchen anzustellen, um Dichtung und Wahrheit voneinander zu unterscheiden. Vor allem wären sie zu der Erkenntnis gelangt, dass der DDR-Geheimdienst über lange Zeit äußerst dilettantisch vorgegangen war. Denn die Lübke belastende Mitgliedschaft im sogenannten „Jägerstab“ war für die Ost-Berliner Spione auch nach 1968 keine Recherche wert. Gleiches gilt für seine Biografen wie für jene Wissenschaftler, die sich mit dem Fall Lübke beschäftigten.  

Dass der spätere Bundespräsident Heinrich Lübke ein Profiteur des Nationalsozialismus war, ist bei den Publizisten nicht zu lesen. Lübke erlebte keinen Kampf an der Front wie Millionen Männer, weil er dank seines Einsatzes in der „Baugruppe Schlempp“ über die gesamte Kriegszeit „unabkömmlich“ war. Finanziell erlebte er keinerlei Einbußen, im Gegenteil. Er und seine Frau Wilhelmine Lübke kannten keinen Hunger, waren im Gegensatz zu Millionen Deutscher optimal versorgt. Auch darüber hat Heinrich Lübke geschwiegen. 

Der bereits erwähnte „Jägerstab“ hatte von Rüstungsminister Albert Speer die Aufgabe erhalten, die Rüstungsbetriebe der Flugzeugindustrie aus den bombengeschädigten oder gefährdeten Betrieben in unterirdische Produktionsstätten zu verlagern und die Produktion mit allen Mitteln auf Hochtouren zu bringen. Ihm war auch die „Baugruppe Schlempp“ mit ihrem stellvertretenden Leiter Lübke zugeteilt worden.  

Der Jägerstab bestand aus 26 von Minister Albert Speer persönlich berufenen Mitgliedern. Er wurde geleitet vom Diplom-Ingenieur Karl Saur, Leiter des technischen Amtes im Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion und Mitglied der NSDAP. Weitere Mitglieder waren unter anderem SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS Hans Kammler, der als Leiter für das Bauwesen der SS verantwortlich für alle KZ-Bauten war, einschließlich der Gaskammern und Krematorien. In den „Jägerstab“ von Albert Speer berufen wurden zudem der Architekt Walter Schlempp, Chef des Ingenieurbüros Schlempp, NSDAP- Mitglied und sein Stellvertreter Heinrich Lübke, Vermessungsingenieur und Bauleiter, der zu keiner Zeit der NSDAP angehörte. 

Vom 3. März bis 6. August 1944 wurden stenografische Niederschriften von 106 Sitzungen dokumentiert. ( Sie fanden beinahe täglich in den Räumen des Berliner Reichsluftfahrtministeriums statt und dauerten nicht selten bis zu 10 Stunden.) In über 9000 Seiten Niederschriften kommt der „Baustab Schlempp“ mit den Personen von Walter Schlempp oder Heinrich Lübke ständig vor. In den 106 Sitzungen ist der „Arbeitseinsatz“ ein ständiger Tagesordnungspunkt, mindestens ebenso häufig wie „Betr. Bau“. Und der meint den Arbeitseinsatz tausender KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter. Als Gesamtanforderungen für das Jägerprogramm stehen im Protokoll 150.000 Mann Arbeitskräfte. 

Ohne Zweifel war Heinrich Lübke ein kleines, aber wichtiges Rädchen im „Jägerstab“. Er setzte seine ganze Schaffenskraft ein, den Führerbefehl, nämlich die Produktion von todbringenden Flugzeugen, aufrechtzuerhalten.  Der Sauerländer Lübke bekam hautnah mit und sah tagtäglich mit an, unter welchen unmenschlichen Bedingungen KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiter und Gefängnisinsassen schikanöse Sklavenarbeit nicht nur für Baumaßnahmen des „Jägerstabes“ verrichten mussten. KZ-Häftlinge galten als letztes Aufgebot für die Sklavenarbeit im Auftrag des „Jägerstabs“ und damit für die empfindlich zerstörte Rüstungsindustrie. 

Es hätte keinerlei Fälschungen der Stasi bedurft, um Lübke als kleines Rädchen in der Rüstungsindustrie an den Pranger zu stellen. Es wurde schlicht versäumt - ob aus Unvermögen oder Unwissenheit. Kein Stasi-Rechercheur hat je in die Akten des Jägerstabs geblickt, die Bundespräsident Heinrich Lübke schwer belasteten.  

Die Wahrheit ist: Lübke war Täter – wenn auch kein ideologisch überzeugter – und Paradebeispiel für unverantwortliches Schweigen. Und so ist dem Historiker Jens Christian Wagner zuzustimmen, der meinte, Heinrich Lübke hätte auf die Anklagebank der Nürnberger Prozesse und nicht in die Villa Hammerschmidt gehört.  

Heinrich Lübke war vermutlich kein überzeugter Nazi. Dass er sich ohne NSDAP-Mitgliedschaft in dem beschriebenen NS-Gremium durchmogeln konnte, ist wohl seinem Opportunismus geschuldet. Wie so viele seiner Zeitgenossen schaffte er es, seine Verstrickungen in das NS-Rüstungssystem nach dem Krieg zu verheimlichen oder schlicht zu leugnen. Heinrich Lübke war einer der vielen Mitläufer, die sich anpassten, wohl auch profitierten und im Nachhinein versuchten, durch Bestreiten durchzukommen. Dabei half ihm sein Einsatz für die Ausweitung der Entwicklungshilfe und für die Dritte Welt - vor allem für Afrika. 

Mary-Castle Jazzband 

Nachtrag muss sich noch die Kolleginnen und Kollegen vom WDR, dich herzlich begrüße. 

Herzlich willkommen auch meine langjährige Kollegin Karin Alles vom Hessischen Rundfunk und ihr Mann Dr. Dieter Böhm. Karin und ich war lange Zeit Konkurrenten: Sie verantwortlich für „Titel Thesen Temperamente“, und ich für den „Kulturweltspiegel“. Die Freundschaft ist geblieben. 

Vier Wochen lang konnte ich mich in der Köln-Poller Reha „AMKARE“ eher tüchtigen. Willkommen Linda und Keti. 

Willkommen auch die Tennisfreunde und die täglichen Mitschwimmerinnen und Mitschwimmer. 

Die Stasi-Akte des dritten Bundespräsidenten Gustav Heinemann von 1969 bis 1974 ist die mit dem geringsten Umfang aller sechs Bundespräsidenten. Dafür gibt es mehrere Gründe: Rechercheure fanden im Lebenslauf des angesehenen Politikers nichts an Hinweisen, die sich für propagandistische Zwecke oder sogenannte „Aktive Maßnahmen“ geeignet hätten. Heinemann, weder NSDAP-Mitglied, noch einer ihrer Unterorganisationen, hatte jeden Nationalismus und Antisemitismus entschieden abgelehnt und sich als evangelischer Christ in der „Bekennenden Kirche“ engagiert. Dennoch gibt es einen dunklen Fleck in der Vita Heinemanns. Nach dem Studium wurde er Justiziar und Prokurist der Rheinischen Stahlwerke AG in Essen und saß seit 1936 in deren Vorstand als stellvertretendes Mitglied. Die Stasi-Schnüffler - immer auf der Suche nach belastendem Material - interessierten sich für den beruflichen Weg Heinemanns im Dritten Reich so gut wie nicht. Heinemanns Karriere bei der Düsseldorfer  Rheinstahl war für sie kein Stoff für eine herausragende propagandistische Aktion. Dabei hat Heinemann im System der deutschen Rüstungswirtschaft gut funktioniert, wurde  dafür  vom Krieg als „unabkömmlich“ gestellt und war über den Einsatz von Zwangsarbeitern jederzeit im Bilde. Schlimmer noch: Spätestens seit März 1940 war der kriegsbedingte Arbeitskräftemangel regelmäßig Thema in den Sitzungen des Rheinstahl-Vorstands gewesen, und bereits im Mai hatte man dort auf die Zuweisung von 20 polnischen Kriegsgefangenen gehofft. Dabei war es nicht geblieben: Im März 1944 waren auf den Zechen des Konzerns ein Fünftel der rund 17.000 Beschäftigten Ausländer gewesen, davon fast 3000 sowjetische Kriegsgefangene, von denen viele erst, so habe es intern geheißen, hochgepäppelt werden mussten, ehe sie zum Einsatz kommen konnten. Als Bundespräsident wurde Gustav Heinemann mit seiner beruflichen Tätigkeit im Nationalsozialismus zu keiner Zeit konfrontiert. Auch die Mannen des DDR-Geheimdienstes hielten ihre Augen offenbar dafür verschlossen und zeigten nicht einmal ansatzweise Interesse, wie es Gustav Heinemann geschafft hatte, die rund 350.000 Zwangsarbeiter im Ruhrgebiet nicht ein einziges Mal zu thematisieren. Das Schweigen des aus Essen stammenden Bundespräsidenten und das Schweigen des Ost-Berliner Ministeriums für Staatssicherheit über Gustav Heinemanns Berufsweg in der NS-Zeit, gerade im Vergleich  zu Heinrich Lübke, lassen sich nicht schlüssig erklären. 

Mary-Castle Jazzband 

Der Auslandsspionage des  DDR-Geheimdienstes ging es in all den Jahren seiner Existenz von 1949 bis1989 um die Frage, wer ist wer. Die Lebensläufe der Bonner Politiker wurden penibel durchforstet, um den Mitgliedern des Politbüros und vor allem Walter Ulbricht, Erich Honecker und  zum Schluss Egon Krenz Daten und Fakten zu liefern. Im Mittelpunkt standen Fragen über ihre Zeit während des Nationalsozialismus, Fragen nach politischen Einstellungen vor allem gegenüber der DDR. Die politische Elite der DDR war immer bestens informiert über das politische Personal in Bonn. Dazu zählten natürlich auch die Bundespräsidenten.  

Sehr früh ließ der sozialdemokratische Amtsinhaber Gustav Heinemann erkennen, dass er nicht noch einmal kandidieren werde. Nun konnte Walter Scheel seinen lange gehegten Traum erfüllen. Scheel hatte es leicht, denn die sozial-liberale Koalition verfügte in der Bundesversammlung über eine überzeugende Mehrheit. Am 15. Mai 1974 wurde Scheel mit 530 Stimmen von SPD und FDP in der Bundesversammlung gegen Richard von Weizsäcker, CDU, zum vierten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Er trat am  1. Juli 1974 sein neues Amt an. 

Auffallend bei Walter Scheels Stasi-Akte sind die riesigen Lücken in der langjährigen Spionagetätigkeit. Schon als Bonner Bundesminister für Wirtschaftliche Zusammenarbeit  und vor allem als Bundesaußenminister stand der FDP-Politiker unter ständiger Stasi-Kontrolle. Vermutlich wurde die Akte in den wenigen Wochen zwischen Mauerfall 1989 und dem Ende des DDR-Geheimdienstes nach den ersten freien Wahlen im März 1990 weitgehend zerfleddert, zerrissen oder verbrannt. Doch wie durch ein Wunder konnten anderweitige Dokumente gesichert werden. 

An dieser Stelle ist es ganz wichtig, auf das Document Center in West-Berlin hinzuweisen. Das BDC war nach dem Zweiten Weltkrieg von der amerikanischen Besatzungsmacht in West-Berlin angelegt worden. Hier lagerte unter anderem die Gesamtkartei über alle ehemaligen SS, SA und NSDAP- Mitglieder seit 1929. Das Ministerium für Staatssicherheit muss entweder persönlich direkten Zugang zum Document Center Berlin-Zehlendorf gehabt oder aber einen hochkarätigen Spitzel unter den Angestellten angeworben haben. Letztere Annahme scheint realistischer und wäre ein weiterer Beleg dafür, dass es der DDR gelang, an Informationen zu kommen, die auf legalem Weg niemals zu erlangen gewesen wären. Das Document Center mit seinen Gesamtkarteien über die ehemaligen SS-, SA- und NSDAP- Mitglieder war für die Ost-Berliner Propagandisten ein Geschenk des Himmels im Kampf um die Informationshoheit im Kalten Krieg.  

Bis 1994 stand das BDC unter amerikanischer Verwaltung. Erst danach konnte es vom Bundesarchiv übernommen werden. Für westdeutsche Historiker und Journalisten war es bis dahin kaum möglich, das im BDC gesammelte historisch bedeutsame Quellenmaterial zu nutzen. 

Die MfS-Rechercheure verfügten frühzeitig auch über belastendes Material, das Walter Scheel in Bedrängnis hätte bringen können. Nach den Unterlagen im damaligen Berliner Document Center, das dem DDR-Geheimdienst auf irgendeine Art zur Verfügung stand, beantragte der 22-jährige Walter Scheel  am 1. Mai 1941 die Mitgliedschaft in  der NSDAP und wurde am 1. Juli 1941 in die Partei aufgenommen. Doch im Gegensatz zu anderen Bonner Politikern, die wegen ihrer NSDAP-Mitgliedschaft in sogenannten „Aktiven Maßnahmen“ des MfS an den Pranger gestellt wurden, gab es keine einzige Aktion gegen Walter Scheel – weder in seiner Zeit als Bundesaußenminister, noch später während seiner Amtszeit als Bundespräsident. 

Als ich im Bundesarchiv Scheels NSDAP-Mitgliederkartei beantragt hatte, bekam ich die einschlägigen Dokumente, über die schon früh die Stasi verfügte.  Den Unterlagen war auch eine von Walter Scheel im Juni 2005 in Berlin unterschriebene Erklärung beigefügt. Darin heißt es unter anderem: „Mir ist unerklärlich, wie ich am Zustandekommen der NSDAP-Karteikarte beteiligt gewesen sein kann.“ Eine Lüge. 

Unstrittig ist, dass eine NSDAP-Mitgliedschaft grundsätzlich schriftlich beantragt werden musste. Dafür wird es auch im Falle Walter Scheels vermutlich keine Ausnahme gegeben haben.  

Nachzutragen bleibt noch, dass Walter Scheel  seit 1969 von mehreren nicht mehr identifizierbare Spitzeln umgeben war. Ein besonderes Kaliber im Kreis der Verräter von Bonn war der Journalist Willi-Rudolf Schelkmann, ein vertrauter Walter Scheels. Unter dem Decknamen „Karstädt“ lieferte der Agent bis 1975 rund 260 Berichte, vor allem aus dem Machtzentrum der Bundesrepublik. Der Fokus lag dabei hauptsächlich auf den Koalitionären Brandt und Scheel. 

Kurz nach seinem Amtsantritt als vierter Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland am 1. Juli 1974 hatte das Ministerium für Staatssicherheit erneut eine Fülle von Daten und Fakten zur „Person von Walter Scheel“ zusammengetragen. Doch war thematisch nichts geeignet, Scheel „verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen“, wie es der eigentliche Auftrag der Ost-Berliner Spione gewesen wäre. 

Angesichts der eindeutigen Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung - die CDU und CSU verfügten über eine Mehrheit - stellte sich Walter Scheel 1979 nicht erneut zur Verfügung und schied am 30. Juni 1979 aus dem Amt. Fortan schien das Interesse der Ost-Berliner Spione an Altbundespräsident Walter Scheel gegen Null zu tendieren. 

Warum der schonende Umgang des Ministeriums für Staatssicherheit mit Bundespräsident Walter Scheel und seiner Amtszeit? Vermutlich lag es an Scheels politischer Einstellung gegenüber der DDR, die als äußerst freundlich bewertet werden muss. Ein besonderes Gewicht hatte dabei sicherlich sein Engagement für die sozial-liberale Ostpolitik mit den Moskauer und Warschauer Verträgen. Aus Sicht der SED-Oberen verdiente Walter Scheel größten Respekt. Ihn an den Pranger zu stellen vor allem wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft schien dem DDR-Geheimdienst verboten worden zu sein. 

Mary-Castle Jazzband 

Karl Carstens´ Stasi-Akte beginnt im Jahr 1966. Als Erstes versuchten die Rechercheure des Ministeriums für Staatssicherheit, die wichtigsten Lebensdaten zu erkunden und dokumentierten penibel Kindheit, Jugend, Studium, Kriegsteilnahme und seine politische Karriere als hoher politischer Beamter und als Parteimitglied innerhalb der CDU.  

Wie stets interessierten sich die ostdeutschen Spitzel vor allem für seine nazistische Vergangenheit. Am Ende umfassender Vorermittlungen und Recherchen zu dem Mann, der ab 1979 bis1984 das höchste Amt der Bundesrepublik bekleiden sollte und wollte, schrieben die Spione, dass Carstens am 10. November 1937 die NSDAP-Mitgliedschaft beantragt hatte. Carstens verschleppte allerdings die Einreichung notwendiger Unterlagen zu einem Zeitpunkt, als erneut eine Mitgliedersperre für die NSDAP eingetreten war. So wurde  der Antrag Carstens erst nach dem Kriegsausbruch 1939, nach Aufhebung der Mitgliedersperre positiv beschieden. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits Soldat. Seit Mai 1935 galt: „Soldaten dürfen sich politisch nicht betätigen. Die Zugehörigkeit zu NSDAP oder einer ihrer Gliederungen … ruht für die Dauer des aktiven Wehrdienstes“. In seinen Memoiren behauptete Carstens später, dass er in Wahrheit nicht Mitglied der NSDAP gewesen sei. Immerhin belegen jedoch Dokumente aus dem Bundesarchiv, dass Karl Carstens seine NSDAP-Mitgliedsbeiträge ab Mai 1937 bis zum Ende des Jahres 1938 und sogar noch bis Juni 1939 bezahlte. Warum wurden von Carstens 26 Monate lang Mitgliedsbeiträge kassiert, wenn er angeblich gar kein NSDAP-Mitglied war?  

Außerdem: Ein Dokument aus dem Bundesarchiv bescheinigt, dass „der Parteianwärter Karl Carstens seit dem 1. Oktober 1938 als Blockhelfer innerhalb der Zelle 11 eingesetzt ist“. Die neben der Dienstbezeichnung Blockleiter besser bekannte Bezeichnung Blockwart beschrieb eine Funktion in der NSDAP-Parteiorganisation ab 1933. Ein Blockleiter war für 40 bis 60 Haushalte mit durchschnittlich rund 170 Personen zuständig. Der Blockleiter konnte in seinem Abschnitt auf ehrenamtliche Blockhelfer zurückgreifen, gegenüber denen er auch weisungsberechtigt war. Diese Helfer mussten zwar nicht selbst der NSDAP angehören, hatten jedoch ebenfalls ihre „arische“ Abstimmung nachzuweisen und wurden vom Ortsgruppenleiter berufen. 

Warum die „Kundschafter des Friedens“ zu keiner Zeit irgendwelche Aktionen - genannt „Aktive Maßnahmen“ - gegen Carstens unternahmen, lässt sich nicht schlüssig erklären. Dabei hätte sich Carstens´ NSDAP-Mitgliedschaft angeboten, internationale Pressekonferenzen in Ost-Berlin abzuhalten und den neuen Bundespräsidenten als ehemaliges NSDAP-Mitglied anzuprangern. 

Schon während des Vorspiels zu Carstens´ Übernahme des Präsidentenamtes lieferten einschlägige Bonner Spione Berichte, die von hohem Informationsgehalt zeugten. Einer der fleißigen unter ihnen war IM „Max“ alias Rudolf Märker. Er darf als der Stasi-Maulwurf von Bonn schlechthin bezeichnet werden: Der Journalist verfügte über beste Kontakte zur SPD-Spitze um Brandt, Schmidt und Wehner. Als Spitzen-Spitzel der HVA wusste er auch über Karl Carstens umfassend zu berichten. 

Schwerpunkte der Arbeit der Carstens-Schnüffler waren vor allem seine Auslandsreisen sowie die Empfänge ausländischer Gäste in der Villa Hammerschmidt.  

Doch insgesamt zeigte die Ost-Berliner Auslandsspionage nur geringes Interesse an Karl Carstens. Dabei hätte sich so manche Ungereimtheiten in seiner Biografie angeboten, öffentlichkeitswirksam nach den Mitteln und Methoden des DDR-Geheimdienstes den fünften Bundespräsidenten, das höchste Staatsoberhaupt der BRD, zu diffamieren. 

Karl Carstens hat in seiner fünfjährigen Amtszeit keine tiefen Spuren hinterlassen. Für mich und andere Beobachter zählt er zu den politisch am wenigsten ambitionierten Bundespräsidenten. Fast schon achtlos ging der Jurist an den großen Daten der deutschen Geschichte vorbei, ohne Stellung zu beziehen, ohne sie politisch-historisch einzuordnen. Wie er selbst die Zeit des Nationalsozialismus erlebte und überlebte, thematisierte er als Präsident nicht. In seinen Memoiren finden sich zahlreiche Erinnerungslücken, und er blieb bei seiner Linie des Verschweigens. 

Was allerdings in besonderem Gedächtnis blieb, war sein Wandern kreuz und quer durch die Bundesrepublik. 

Mary-Castle Jazzband 

Nachdem Carstens zu Helmut Kohls Bedauern  schon sehr früh signalisierte, dass er für eine zweite Amtszeit nicht zur Verfügung stehe, mussten sich die Unionsparteien, die eine absolute Mehrheit in der Bundesversammlung hatten, auf einen neuen Kandidaten verständigen. Favorit des CDU-Bundesvorsitzenden war der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht. Doch mit seiner Absage ging der Präsidentenpoker in eine neue Runde. Selbst ins Spiel gebracht hatte sich unterdessen der Regierende Bürgermeister von Berlin Richard von Weizsäcker. In mehreren sehr persönlichen Schreiben an Kohl drängte er zur Entscheidung zu seinen Gunsten. Doch Kohl blieb skeptisch.  

Unterdessen stand Weizsäcker als Regierender Bürgermeister seit seinem Amtsantritt im Juni 1981 unter permanenter Beobachtung der Stasi. Bei seinen zahlreichen Reisen von und nach Berlin und vor allem bei seinen Aufenthalten in der DDR entging den Spähern nichts. Weizsäcker wurde auf Schritt und Tritt „verfolgt“ und beobachtet. Nie verloren ihn die Späher aus den Augen. Darüber wurden generell penibel geführte Beobachtungsberichte angefertigt, die in Weizsäckers umfangreicher Stasi-Akte eine wichtige Rolle spielen. In Weizsäckers Aktenkonvolut, das  bis in das Jahr 1969 zurückreicht, wurde für den Freiherrn ab 1979 durchweg der Deckname „Waldkauz“ benutzt. Warum die Stasi auf den Decknamen „Waldkauz“ für Richard von Weizsäcker kam, lässt sich nicht erschließen. 

Mit der Ankündigung des CDU-Bundesvorsitzenden Helmut Kohl im Dezember 1983, Richard von Weizsäcker als Nachfolger von Karl Carstens vorzuschlagen, begann für die Ost-Berliner Spione eine neue Zeit. Auffallend war in  mehreren Dossiers, das Herausstellen der durchweg positiven Seiten Weizsäckers, während kritische Anmerkungen zur Politik und Person des designierten Bundespräsidenten-Kandidaten, die auch dem DDR-Geheimdienst nicht unbekannt waren, gänzlich fehlen. 

Im Unterschied zu anderen prominenten Westbesuchern in der DDR wie Johannes Rau oder Franz Josef Strauß war Weizsäcker bemüht, Kontakte mit DDR-Bürgern zu vermeiden und seine Besuche im Ostteil der Stadt ohne großes Aufsehen abzuwickeln. „Waldkauz“ gab sich alle erdenkliche Mühe, nicht auf Menschen zuzugehen. Es sah so aus, als ob Weizsäcker seine Besuche in der DDR am liebsten inkognito abgewickelt hätte. Entsprechend vermerkte die Stasi am Ende der Besuche, dass Weizsäcker während seines Aufenthalts in der „Hauptstadt der DDR“ nicht öffentlichkeitswirksam in Erscheinung trat. 

Am 23. Mai 1984 ging für Richard von Weizsäcker ein Lebenstraum in Erfüllung. Die Bundesversammlung wählte ihn zum sechsten Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland. Am 1. Juli 1984 trat er sein Amt an. Diese Daten waren für das Ost-Berliner Ministerium für Staatssicherheit erneut Anlass, in die Vergangenheit des neuen Staatsoberhauptes zu blicken, Neues in Erfahrung zu bringen, das Leben Weizsäckers zu durchleuchten. Dabei hätte spätestens an dieser Stelle der DDR-Geheimdienst das aufholen müssen, was er bis zur Stunde bei Weizsäcker im Vergleich zu anderen Spitzenpolitikern der Bundesrepublik versäumt hatte. Mit der Wahl zum höchsten Repräsentanten der Bundesrepublik hätte es sich angeboten, endlich die bisher völlig vernachlässigte Vergangenheit des Karrierepolitikers und seiner Familie zu ergründen. 

In anderen Fällen wurde bei Eltern, Geschwistern, Verwandten, Freunden und Kollegen vor allem danach geforscht, wie sie die Jahre des Nationalsozialismus erlebt und überlebt hatten. Fragen nach der Kriegsteilnahme und vor allem nach einer NSDAP-Mitgliedschaft spielten bei den Recherchen der Stasi eine überragende Rolle. Als Mitglied der NSDAP und der SS wie bei  Richard von Weizsäckers Vater hätte bei dem Sohn die Propagandamaschinerie angeworfen und in „Aktive Maßnahmen“ umgesetzt werden können. Für die SED-Propagandisten, denen das Ministerium für Staatssicherheit alle notwendigen echten oder auch manipulierten Dokumente lieferte, wäre die Familie Weizsäcker wie bei unzähligen vergleichbaren NS-Belasteten eigentlich ein gefundenes Fressen gewesen. Doch die sonst so gewieften  Rechercheure der Staatssicherheit hatten offenbar die Weisung, nichts zu unternehmen. Sie schienen bewusst keinen einzigen Blick auf die Nazi-Vergangenheit der Weizsäcker-Eltern zu werfen. Über die tiefen Verstrickungen des Vaters von Richard von Weizsäcker, Ernst von Weizsäcker, in die Verbrechen des Nationalsozialismus befand sich deshalb kein einziges Wort in der mehrbändigen Stasi-Akte seines Sohnes Richard. 

Ernst von Weizsäcker hatte ab 1938 unter Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop das Amt des Staatssekretärs übernommen und war damit der höchste Diplomat im Nationalsozialismus. Bereits am 1. Dezember 1936 war er in die NSDAP eingetreten. Am 20. April 1938 wurde er von Heinrich Himmler, Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei als SS-Oberführer ehrenhalber in die allgemeine SS aufgenommen. 

Im August 2023 erhielt ich auf Antrag beim Bundesarchiv auch die NSDAP-Mitgliederkartei von Weizsäckers Mutter Marianne Freifrau von Weizsäcker. Wie ihr Mann war sie ebenfalls am 1. Dezember 1936 der NSDAP beigetreten. Außerdem hatte Marianne von Weizsäcker zuvor 1935 die Aufnahme in die Auslands-Organisation der NS-Frauenschaft in der Ortsgruppe Bern beantragt, wo ihr Mann als Gesandter des Berliner Auswärtigen Amtes eingesetzt war. Ein weiteres Dokument aus dem Bundesarchiv trägt Marianne von Weizsäckers Unterschrift zur Aufnahmeerklärung der Ortsgruppe Bern/Schweiz zum Eintritt in die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei vom 5. Oktober 1936. Nach Angaben eines angesehenen Schweizer Diplomaten und Intellektuellen und langjährigen engen Freund der Familie Weizsäcker sei Marianne von Weizsäcker eine „militante Nationalsozialistin“ gewesen . 

Erlaubt seien die Fragen: Welchen Einfluss hatten solche durch und durch vom Nationalsozialismus überzeugten Eltern auf ihre drei Söhne und die Tochter? Was passierte in deren Herzen und Hirnen? Welche Rolle spielte vor allem Mutter Marianne bei der Erziehung ihrer Kinder im jugendlichen Alter? Welche nationalsozialistischen Prägungen haben die Kinder mitbekommen? Welche Wertvorstellungen aus der NS-Zeit wurden weitergegeben? Wie groß war die Auswirkung der Indoktrinierung? Wann galt nationalsozialistische Ideologie als überwunden? 

Die Ungleichbehandlung der Bundespräsidenten in 40 Jahren Bonner Republik durch die DDR-Spionage war auffallend und bleibt unerklärbar. Es ist zu vermuten, dass von höchster Stelle des Politbüros, sprich Erich Honecker, über den Minister für Staatssicherheit Erich Mielke und den Chef der DDR-Auslandsspionage Markus Wolf Anweisungen erfolgten, wie die NS-Verstrickungen von Ernst von Weizsäcker und die NSDAP- Mitgliedschaft von Marianne von Weizsäcker propagandistisch und spionagetechnisch zu behandeln seien: nämlich gar nicht. Gleiches muss für die Weizsäcker-Kinder und vor allem für den Politik-Star Richard von Weizsäcker geregelt worden sein. 

Richard von Weizsäckers Teilnahme am Zweiten Weltkrieg vom ersten Tag des Kriegsausbruchs 1939 bis zum Ende der Kriegshandlungen 1945 fehlt in seiner Stasi-Akte ganz. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern Heinrich Lübke und Karl Carstens, deren Kriegseinsätze penibel nachgezeichnet wurden, verzichtete die Stasi gänzlich auf die Beschreibung von Weizsäckers außergewöhnlicher Kriegsteilnahme. Denn eigentlich wäre seine Karriere im Grenadierregiment 9 für die HVA und ihren Chef Generaloberst Markus Wolf ein gefundenes Fressen für sogenannte „Aktive Maßnahmen“ gewesen. Die Mannen um Markus Wolf hätten zum Beispiel eine riesige Propagandaaktion gegen Weizsäcker machen können, als er zum Ordonnanzoffizier  wenige Kilometer vom Führerhauptquartier „Wolfsschanze“ entfernt,  berufen wurde. Dass der 22-jährige an jenem Ort Adolf Hitler erlebte, hätte nach den Regeln der DDR-Spionage eine ebenso große Kampagne werden können. 

Nachdem Weizsäckers Lebenstraum in Erfüllung gegangen war, und er das Amt des Bundespräsidenten am 1. Juli 1984 angetreten hatte, schalteten die Ost-Berliner Spione auf elektronische Spionage um. Oberstes Ziel war, mit technischen Mitteln möglichst viele Informationen in erster Linie aus Funk- und Fernmeldeverbindungen zu gewinnen. Konkret ging es um Erkenntnisse aus Weizsäckers Umfeld und vor allem aus dem Bundespräsidialamt in Bonn.  

Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft hielt Richard von Weizsäcker seine berühmt gewordene Rede am 8. Mai 1985 in der Gedenkstunde im Plenarsaal des Deutschen Bundestages. Darin verdeutlichte Weizsäcker unter anderem, dass der Tag des Kriegsendes in Europa für die Deutschen kein Tag der Niederlage, sondern ein „Tag der Befreiung“ vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gewesen sei. 

Dieser Begriff „Tag der Befreiung“ ging in die Geschichte ein und ist unmittelbar mit Richard von Weizsäckers Amtszeit verbunden. Dabei wissen wir heute durch Forschungen, dass Helmut Kohl und Walter Scheel in ihren Reden zuvor bereits die Formulierung „Tag der Befreiung“ nutzten.  Es war kein Geringerer als Walter Scheels Ghostwriter, der den Tag der Befreiung als erster in eine Scheel-Rede einbaute. Wenn auch bis heute Richard von Weizsäcker gleichsam als „Erfinder“ der Interpretation des 8. Mai als „Tag der Befreiung“ beschrieben wird, trifft es überhaupt nicht zu. Warum er seinen Ghostwriter, den er von Walter Scheel übernommen hatte, niemals als Urheber nannte, bleibt ein Geheimnis. 

Sein Geheimnis bleibt auch, warum er beim Arbeitsbesuch des SED-Staatsratsvorsitzenden im September 1987 als Leisetreter auftrat. Die von der Stasi mitgeschnittenen Vieraugengespräche, die Honecker in Bonn führte - von Brandt, Schmidt, Wehner,  Kohl bis Richard von Weizsäcker  -  zeugen im Falle des deutschen Staatsoberhauptes mit dem SED-Spitzenmann inhaltlich von einer außerordentlichen Armut. Der Mann in der Villa Hammerschmidt machte nicht im Ansatz den Versuch, wenigstens einen der heiklen Punkte aufzugreifen. Nicht den Reise- und Besuchsverkehr. Kein Wort zu den Menschenrechtsverletzungen in der DDR, zur fortlaufenden Unterdrückung oppositioneller Gruppen. Kein Satz zum Verhältnis zwischen DDR-Obrigkeit und Evangelischer Kirche. Keine Frage des Bundespräsidenten zu den Schüssen an der Mauer, an der Grenze zwischen beiden deutschen Staaten. Stattdessen beinahe Meinungsgleichklang über die Nuklearpolitik der Großmächte und über die Abrüstungsbemühungen, bei der beide deutsche Staaten lediglich Zuschauer waren. 

Ein letztes Dokument in der Stasi-Akte über Richard von Weizsäcker datiert vom 17. Dezember 1989. Die Mauer war vor knapp sechs Wochen gefallen, die Chance einer Zusammenführung beider deutscher Staaten in greifbarer Nähe. Ein zweiseitiges Dokument belegt die Reise Weizsäckers in die DDR über die Glienicker Brücke. Als Reiseziel war der Name des Konsistorialratspräsidenten der Evangelischen Kirche der DDR Manfred Stolpe verzeichnet. Über die Inhalte des mehrstündigen Treffens der beiden befreundeten Kirchenmänner gab es keine einzige Zeile. Was suchte Weizsäcker bei Stolpe, der bei der Stasi als IM „Sekretär“ geführt wurde? 

Für viele politische Beobachter in Bonn wurde Weizsäcker nach dem Mauerfall seiner Rolle im schwierigen Prozess der Annäherung beider deutscher Staaten nicht gerecht. Vermisst wurden begleitende öffentliche Auftritte und Interviews, verbunden mit Ideen und Impulsen für die Bewältigung der riesengroßen Herausforderungen – allein durch die zunehmende Abwanderung der DDR-Bürger. Ein Jahr später, am Tag der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990, wurde der allseits bewunderte Richard von Weizsäcker über Nacht Präsident aller Deutschen. Daran hatte er nach Meinung des Autors den geringsten persönlichen Anteil. 

Doch zu Lebzeiten wurde er schon wie ein Heiliger auf Erden verehrt. 

Mary-Castle Jazzband