Großer Mann, große Geschichte und große Tragik: Die "Kohl-Protokolle" geben Einblicke in das Denken des Altkanzlers. Er zeigt sich ebenso verletzt wie verletzend. Ein unverzichtbares Dokument.
Merkel konnte "nicht richtig mit Messer und Gabel essen", Merz war ein "politisches Kleinkind", Wulff "eine Null" und Blüm ein "Verräter". Willkommen im Kopf von Helmut Kohl.
"Vermächtnis. Die Kohl-Protokolle" heißt das umstrittene Buch des Journalisten Heribert Schwan. Ist es ein historisches Dokument - oder nur ein voyeuristisches? Ist die Veröffentlichung ein Vertrauensbruch? Oder erfüllt Schwan den wahren Wunsch des greisen Altkanzlers? Der SPIEGEL hob Helmut Kohl am Montag auf den Titel, am Dienstag wurde das Buch in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt. Jetzt debattiert das Land über Kohl und die Rache alter Männer.Zwischen März 2001 und Oktober 2002 hatte Schwan das Objekt seiner Forschung in 105 Sitzungen im Keller des berühmten Bungalows in Oggersheim befragt. Das Ergebnis: 200 Kassetten, 630 Stunden, Erinnerungen und Gedanken, geprägt von Bitterkeit und vom Wunsch nach Rache, vom Willen zur Selbstinszenierung ebenso wie von der Fähigkeit zur nüchternen historischen Analyse.
Es geht um die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
Heribert Schwan hat gemeinsam mit dem Journalisten Tilman Jens ein Buch daraus gemacht. Wäre es nach Maike Kohl-Richter gegangen, es wäre nie erschienen. Die neue Frau herrscht im Hause Kohl. Die Söhne, die alten Freunde, auch der frühere Vertraute Schwan haben das zu spüren bekommen. Traurige Episoden keiner normalen Familie. Spätestens der Streit um die "Kohl-Protokolle" berührt nun mehr als die Belange der Privatleute Kohl. Es geht um die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
Die Gespräche mit Schwan fanden kurz nach dem Absturz statt: Spendenskandal, Merkels Machtübernahme, Untersuchungsausschuss, Abschied in Schande. Kohl wusste schon, worum es ihm im Oggersheimer Keller ging: Rache und Richtigstellung. Warum auch nicht? Nachdem Kaiser Wilhelm II. den alten Bismarck entlassen hatte, zog der sich mit ebensolchem Groll nach Friedrichsruh zurück. Sein Sekretär Lothar Bucher jammerte: "Bei nichts, was misslungen ist, will er beteiligt gewesen sein und niemand lässt er neben sich gelten." Bismarcks "Gedanken & Erinnerungen" gerieten gleichwohl zur Literatur.
Schwans Werk ist journalistisch - aber darum nicht weniger spannend. Daimler-Benz spendet 50.000 Mark. Kohl schickt das Geld zurück "mit dem Ausdruck des Bedauerns, dass das Unternehmen offensichtlich jetzt Probleme habe und ich sie nicht schädigen wolle". Warum? Weil es zu wenig war. Hanns Martin Schleyer nimmt sich der Sache an. Am Ende kommen 100.000 Mark rüber. Immerhin.Es ist die Erinnerung ans wilde, wilde Westdeutschland, die hier hochkommt. Die Ära Kohl: Das waren die alten Zeiten, als ein Mann noch ein Mann war und ein Koffer voller Geld die anerkannte politische Währung. So lange ist das alles nicht her. Und es liegt doch eine Ewigkeit zurück. Wer kann sich Angela Merkel mit einem Bündel voller Geld vorstellen?
Ohne Kohl gäbe es den Euro nicht
Schwan musste schon vor Monaten auf einen Gerichtsbeschluss hin die Bänder an Kohl zurückgeben. Ob er den Inhalt nun rechtmäßig verwertet hat, werden wiederum die Gerichte entscheiden. Einen ersten Versuch Kohls, das Buch per Einstweiliger Verfügung zu stoppen, hat das Landgericht Köln zurückgewiesen. Nun geht es wohl in die nächste Instanz. "Der Streit ist vertragsrechtlich zu beurteilen", schreibt Heribert Prantl in der "Süddeutschen Zeitung". Aber da hat bei Prantl der Jurist die Oberhand über den Journalisten gewonnen. Richter und Anwälte sollen ruhig unter sich ausmachen, ob Schwan das Recht hatte, aus der Quellen zu zitieren, die er selber hat sprudeln lassen. Gerechtfertigt ist die Veröffentlichung auf jeden Fall.
Allein das Urteil des Altkanzlers zur Genese der deutschen Einheit ist das Buch wert. Kohl trägt ja zu Recht den Titel Kanzler der Einheit. Aber nicht die deutsche, sondern die europäische Einheit ist sein eigentliches Verdienst. Ohne Kohl gäbe es den Euro nicht. Der größte Fortschritt auf dem Kontinent seit dem Krieg. Trotz aller Krisen.Die deutsche Einheit ist ihm eher unterlaufen. Er hat sie nicht bewirkt, aber auch nicht behindert. Kohl selbst sieht das nüchtern, seine eigene Rolle und auch die der Ostdeutschen. "Es ist ganz falsch, so zu tun, als wäre da plötzlich der Heilige Geist über die Plätze in Leipzig gekommen und hat die Welt verändert", sagt Kohl. Die Vorstellung, die Revolutionäre im Osten hätten in erster Linie den Zusammenbruch des Regimes erkämpft, sei dem "Volkshochschulhirn von Thierse" entsprungen: "Gorbatschow ging über die Bücher und musste erkennen, dass er am Arsch des Propheten war und das Regime nicht halten konnte. Und wenn er den Kommunismus erhalten wollte, musste er ihn reformieren, so kam ja die Idee mit der Perestroika."
Autor Schwan übertreibt nur ein bisschen, wenn er jubelt: "Da wird der Mauerfall vor 25 Jahren, das Ringen um die deutsche Einheit mit pointierten Worten als ökonomische Zwangsläufigkeit charakterisiert. Karl Marx hätte seine Freude an diesem Mann gehabt."