10. Okt 2014

KOHL UND WIR

BASLER ZEITUNG

Kohl und wir

Von Hansjörg Müller.

Deutschland streitet: Hat der Journalist Heribert Schwan den Altkanzler hintergangen? Und sind Helmut Kohls Sottisen von öffentlichem Interesse? Sie sind es. Ein Kommentar.

«Was in diesem Buch steht, ist die Wahrheit»: Der deutsche Altkanzler Helmut Kolhl auf der Frankfurter Buchmesse (7. Oktober)

«Was in diesem Buch steht, ist die Wahrheit»: Der deutsche Altkanzler Helmut Kolhl auf der Frankfurter Buchmesse (7. Oktober)
Bild: Keystone

Es ist eine wunderliche Beziehung, die Helmut Kohl und Heribert Schwan vom 12. März 2001 bis zum 27. Oktober 2002 unterhielten. 105 Mal trafen sich der deutsche Altkanzler und der Journalist in Kohls Bungalow im pfälzischen Oggersheim. Kohl nannte Schwan jovial «meinen Volksschriftsteller», Schwan sprach Kohl ehrfürchtig als «Meister» an. Geduzt wurde nur in eine Richtung: Auch nach seinem Ausstieg aus der Politik verlor der Altkanzler sein Gespür für Hierarchien nicht.

Was am Ende dabei herauskam, waren 200 Tonbänder mit insgesamt 600 Stunden Gespräch; Material, das Schwan als Grundlage einer autorisierten Biographie hätte dienen sollen. Der Fortgang der Geschichte ist bekannt: Altkanzler und Biograph zerstritten sich. Schliesslich forderte Kohl die Tonbänder von Schwan zurück, dieser musste sich fügen, nicht jedoch ohne vorher eine vollständige Abschrift des Gesagten anfertigen zu lassen, die nun als Grundlage jener Kohl-Biographie dient, die der heute 84-jährige Altkanzler gerne verbieten lassen möchte und die dieser Tage dennoch erscheint. Eine allfällige Geldbusse scheinen Autor und Verlag dabei kühl einkalkuliert zu haben.

Das öffentliche Interesse

Über juristische, noch mehr aber über moralische Aspekte der Affäre streitet nun die Öffentlichkeit: Ist Schwans Vorgehen in Ordnung, lässt sich der Vertrauensbruch, der zweifellos vorliegt, mit dem öffentlichen Interesse an einer historischen Person rechtfertigen?

«Was immer die Leute an Helmut Kohl noch bewegt und interessiert, solche Enthüllungen können es nicht sein», schreibt Nils Minkmar in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». Das ist nun freilich ganz falsch gedacht, offenbart es doch ein wenig realistisches Bild von den Interessen der Leser, das gerade für einen Journalisten erstaunlich ist.

Das Volk interessierts

Gewiss, man kann Schwans Verrat und den Voyeurismus des Publikums mit Recht beklagen. Man kann es aber auch dem Autor dieser Zeilen gleichtun und sich zu seinem Voyeurismus bekennen: Dass Kohl zum Mittagessen mindestens drei Pfälzer Bratwürste verspeiste, dass er ab vier Uhr nachmittags begann, Riesling ins Mineralwasser zu mischen, auch dass er uneingeladen an Schwans Geburtstagsfeier auftauchte und diesen vor seinen linken Freunden in Erklärungsnot brachte – all das sind Details, die höchst amüsant zu lesen sind. Menschliches, Allzumenschliches eben, doch wer sagt, das interessiere ihn nicht, dürfte in den meisten Fällen ein Lügner sein.

Abgesehen davon sind die kohlschen Tiraden für das Verständnis des Politikers so ganz unerheblich dann doch nicht. Wenn nun herauskommt, dass der Altkanzler dem früheren Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse ein «Volkshochschulhirn» attestiert oder seiner Nachfolgerin Angela Merkel abspricht, den korrekten Umgang mit dem Essbesteck zu beherrschen, erinnert dies in seiner hämischen Absurdität an den amerikanischen Präsidenten Richard Nixon: Auch Nixon liess mitschneiden, was er sagte, sodass heute bekannt ist, dass im Oval Office ein Präsident regierte, der, einmal in Fahrt, die halbe Welt von Idioten und Hurensöhnen bevölkert sah.

China und Watergate, Einheit und Spendenskandal

Warum solches von Bedeutung ist? Weil es vielleicht eben doch auch einiges über den Charakter erzählt: Nixon war der Präsident, der dem Westen China öffnete und den Krieg in Vietnam beendete, doch am Ende stolperte er über sein kriminelles Verhalten in der Watergate-Affäre. Kohl wiederum handelte die Deutsche Einheit aus, doch seine Parteispendenaffäre, die Jahre später bekannt wurde, hätte ihn, wäre er noch Kanzler gewesen, hoffentlich das Amt gekostet. Historische Grösse und menschliche Niedertracht schliessen sich nicht aus.

Das Duell um die Deutungshoheit jedenfalls hat eben erst begonnen: «Was in diesem Buch steht, ist die Wahrheit», verkündete Kohl am Mittwoch bei der Vorstellung eines eigenen Werkes auf der Frankfurter Buchmesse.