Helmut Kohls Ghostwriter hatte Gelegenheit, nicht nur seine Stasiakten zu studieren und zu exzerpieren, sondern sammelte darüber hinaus über Jahre alles, was die Stasi-Unterlagenbehörde in Berlin über die Spionage in Bonn herausgeben konnte. Dazu gehört jede Menge Angaben über inoffizieller Mitarbeiter, die in den verschiedensten Ministerien und Institutionen für den DDR-Geheimdienst spionierten.
Von Ulli Kulke auf welt.de
"Informationsbedarf: alle anfallenden Gespräche" lautete der Befehl, mit dem die DDR-Staatssicherheit Bundeskanzler Kohl und seine Regierung abschöpfte. Kein Spion wurde nach der Wende angeklagt.
Die Empörung war groß in Deutschland, als Ende 2013 herauskam, dass der US-Geheimdienst NSA das Handy von Bundeskanzlerin Angela Merkel abgehört haben soll. Der Generalbundesanwalt kündigte nach längerem Zögern an, deshalb gegen Unbekannt zu ermitteln. Herausgekommen ist dabei bisher nichts. Im Gegenteil: nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit verkündete Harald Range vor Weihnachten, es gebe "keinen zu einer Anklage führenden Beweis dafür, dass Verbindungsdaten erfasst oder ein Telefonat der Bundeskanzlerin abgehört wurden".
Und selbst wenn: Merkel wäre nicht der erste deutsche Regierungschef, der belauscht wurde. Zu Helmut Kohls Bonner Zeit hatte die Abhörpraxis noch ganz andere Dimensionen. Niemand wurde später angeklagt, obwohl Lauscher und Hintermänner durchaus greifbar waren.
Bereits im Dezember 1982, kurz nach Kohls Amtsantritt, erging laut Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit in Ost-Berlin der Befehl, seinen Privatanschluss im Kanzlerbungalow anzuzapfen. Zwei Jahre später galt auch für Kohls Diensttelefone im Bonner Kanzleramt: "Informationsbedarf: alle anfallenden Gespräche".
Wie weit der Bedarf gedeckt werden konnte, ist umstritten, Bonner Sicherheitsexperten meinten nach der Wende, Kohls Telefon sei gesichert gewesen, die Stasi-Mitarbeiter prahlten dagegen: "Das Kanzleramt war für uns absolut offen". Der Befehl, alle Gespräche Kohls mit dem Autotelefon aufzuzeichnen, der ab 1987 galt, war der anspruchsloseste, das Richtfunknetz der Bundespost war am einfachsten zu knacken. Sei es vom Brocken aus oder vom Horchposten vor West-Berlin.
Die Abhöraktionen gelang auch dank West-Technik, etwa aus den Häusern Siemens oder Uher. 3000 Tonbandgeräte standen damals im Standby-Modus bereit, sprangen zu allen Tages- und Nachtzeiten auch automatisch an, wenn bestimmte Nummern angewählt wurden.
Nicht nur Kohls eigene Apparate hörte die Stasi ab, auch diejenigen aus seinem erweiterten Umfeld, von Kanzleramtsminister Philipp Jenninger etwa, von seiner Büroleiterin Juliane Weber und allen anderen, an die man herankam. Wer sich nach der Wende die Enthüllung besonders origineller Details aus den Telefongesprächen erhofft hatte, wurde von den Gerichten enttäuscht.
Über mehrere Instanzen bis zum Bundesverwaltungsgericht klagte Kohl erfolgreich gegen die Veröffentlichung der Gesprächsprotokolle mit Verweis auf seine Persönlichkeitsrechte. Der Stasi-Unterlagenbehörde wurde die Herausgabe untersagt. Die Aufzeichnungen blieben im Archiv. Gesehen hat sie wohl nur der zeitweilige Ghostwriter von Kohl, Heribert Schwan. Jedenfalls deutete er das vor Journalisten an, nachdem der Streit um die unautorisierten "Kohl-Protokolle" eskaliert war.
Die Verantwortlichen für die flächendeckende Telefonüberwachung gingen nach der Wende nicht auf Tauchstation. Viele sprachen gern mit Journalisten, voller Stolz auf ihre Abhörarbeit. Nicht wenige boten sich auch den West-Geheimdiensten an, und manche fanden dort neue Arbeitsfelder, ähnlich wie die Überläufer nach 1945. Angeklagt wegen Spionage gegen die Bundesrepublik wurde keiner von ihnen, jedenfalls kein ehemaliger DDR-Bürger.
Übrigens: 1987 wurde in Bonn noch ein anderer abgehört: Erich Honecker, auf Besuch am Rhein. Verantwortlich war niemand anderes als – der BND.