Beitrag in der Süddeutschen von Willi Winkler
Auf seiner Facebook-Seite steht nur der trotzige Schlachtruf von Herbert Achternbusch: „Du hast keine Chance, aber nutze sie!“ Die Frage, ob Tilman Jens je eine Chance hatte, drängt sich jetzt auf, da er so früh gestorben ist. Aber hatte August von Goethe eine Chance gegen seinen Vater? Klaus Mann gegen den seinen? Walter Jens, Tilmans Vater, war eine ehrfurchtgebietende, bestimmt auch einschüchternde Gestalt in der deutschen Nachkriegs- und nicht nur Literaturgeschichte: Romanautor, Professor der Rhetorik, Kolumnist und universell einsetzbarer Festredner. Der studierte Altphilologe konnte ohne Mühe die Ansprache zum 75-Jährigen des Deutschen Fußballbunds halten, allerdings nicht ohne die theologische Kategorie der coincidentia oppositorum dafür zu bemühen, dass das Runde ins Eckige muss.
Der Sohn seinerseits mühte sich redlich. Nachdem der Schriftsteller Uwe Johnson im März 1984 unter nicht geklärten Umständen verstorben war, brach der Reporter Tilman Jens in die Wohnung des Toten ein und konnte exklusiv aus intimen Notizen über eine gescheiterte Ehe berichten. Gern hatte der Stern die Geschichte gedruckt, doch als sich das Feuilleton darüber empörte, wurde der Reporter entlassen.
Tilman Jens ging zum Hessischen Rundfunk, drehte Filme für „Titel, Thesen, Temperamente“, für den NDR, für Arte, Filme über die Scientology, über Kurt Masur, über Axel Springer. 1994 lief im „Kulturweltspiegel“ ein Beitrag, in dem Jens behauptete, Marcel Reich-Ranicki habe während seiner Tätigkeit für den polnischen Geheimdienst anderen, weniger linientreuen Kommunisten geschadet. Wolf Biermann warf Tilman Jens daraufhin im Spiegel vor, er sei „offenbar zu feige, seinen Vater mit ödipal-sigmundiger Freudigkeit zu erschlagen“, es sei doch nichts weiter als stellvertretender Vatermord. Walter Jens war bis zu dieser Sendung der beste Freund Reich-Ranickis gewesen. Drei Wochen später, als aus den Archiven neue Akten zur Tätigkeit Reich-Ranickis bekannt wurden, nahm Biermann, wieder im Spiegel, alles zurück.
Er konnte noch so oft beteuern, dass der Vorwurf des Vatermords „irrwitzig“ und „hirnverbrannt“ sei, er wurde ihn nicht los. Dem Stern erzählte er sogar: „Wenn es in meiner Biografie ein Problem gab, dann war es eher meine Mutter.“ Inge Jens lebte nicht weniger arbeitsprotestantisch, sie gab mit philologischer Akribie die Tagebücher Thomas Manns heraus und ließ sich, als sie mit ihrem Mann die Raketenlieferung nach Mutlangen blockierte, wegen ihres „verwerflichen“ Tuns vor Gericht bringen, eine Heldin.
Inge Jens und ihr Sohn machten 2008 bekannt, dass Walter Jens an Demenz litt. Tilman Jens legte ein ganzes Buch nach, das auf der abenteuerlichen These fußte, sein Vater habe sich in die Krankheit geflüchtet, weil er sein Verschweigender jugendlichen NSDAP Mitgliedschaft vergessen wollte. Dennoch ist „Demenz. Abschied von meinem Vater“ (2009) Jens’ bedeutendste Arbeit geworden, keine Denunziation, sondern ein Bekenntnis-, ein Erkenntnisbuch. „Mir ist die Sprache gestorben“, zitiert er den schwindenden Vater und berichtet mit journalistischer Präzision über gestammelte Erklärungsversuche, leere Gesten, volle Windeln. Für den Sohn war er ein Fremder, ein Untersuchungsgegenstand geworden, vielleicht die einzige Möglichkeit, dieses Familienunglück zu ertragen. Dafür wurde sich wieder reihum empört; der Vater hätte das Aufklärerische des Berichts gelobt.
Endlich hatte der Sohn zumindest die Deutungsmacht über diesen Weltgeist von Vater gewonnen, der ihn als Neugeborenen – Inge Jens verrät es in ihren Erinnerungen – beim ersten Anblick als „ganz ungeistig“ bezeichnet hatte. „Ich muss als Journalist weiterarbeiten“, hat Tilman Jens einmal gesagt, aber er sagte es in genau der Intonation und mit den rhetorischen Spannungspausen, die für seinen Vater charakteristisch waren. Eine seiner letzten Unternehmungen galt Helmut Kohl. Tilman Jens bearbeitete eine Auswahl der Gespräche, die Heribert Schwan mit dem abgewählten Kanzler geführt hatte. Die Welt verdankt diesem Werk die Überlieferung einiger der übelsten Schmähreden, mit denen Kohl vor allem Parteifreunde und -freundinnen bedacht hatte, aber gedruckt wollte er sie dann doch nicht haben. Nach Kohls Tod wurden die Autoren und der Verlag zu einer Entschädigungszahlung von einer Million Euro verurteilt.
Aus seiner Familie kommt die Nachricht, dass Tilman Jens nach langer schwerer Krankheit gestorben ist. Nach einem Satz Uwe Johnsons, den er auch als Titel für sein erstes Buch wählte, ist er unterwegs an den Ort, wo die Toten sind. Er wurde 65 Jahre alt.